Heiligabend 1944 in Lüben














Zoe Droysen: Wanderung durch die Christnacht 1944

Viele Jahre sind seit jener Wanderung durch die Christnacht vergangen, doch muß ich an jedem Heiligen Abend daran zurückdenken. Nach Dunkelwerden machten wir uns auf, um bei Freunden am anderen Ende von Lüben Weihnachten zu feiern. Wir tappten also vom alten Haus durch den Garten nach der Straße. Die Sterne standen groß und glitzernd in dieser Frostnacht am Himmel und mußten wohl ihr Licht auf die Erde schicken - staunend sahen wir, daß jeder Schneekristall flimmerte und blinkte. Auf der Straße brannten keine Lampen, wir waren ja mitten im Kriege. Nur hier und da fiel Lichtschimmer durch die Spalten der Fensterläden, wir hörten im Vorbeigehen Lachen, Sprechen, Gesang. Um den Weg zu kürzen, bogen wir in die Promenade ein. Nur undeutlich zeigte sich das alte Wendenschloß, dahinter Giebel und Dächer, der Kirchturm. Auf der anderen Seite der Promenade hing der Nebel über den Wiesen. Der Schnee glänzte hier fast noch heller unter den Sternen als zuvor im Garten. Selbst der Nebel schimmerte in einer wunderlichen Helle, die ihm ein Schweben über dem flachen Land gab, als wollte er auch die Wiesen zu den Sternen hinaufziehen.

Weihnachten der Droysen-Familie in der Vorkriegszeit

Weihnachten der Droysen-Familie in der Vorkriegszeit.
Von links: Zoe Droysen, die Schwestern Emma und Anna mit den Söhnen Hans und Gerhard, die Ehemänner der beiden Schwestern.

Wir begegneten niemandem, die Lübener waren wohl alle schon mitten im Feiern und versuchten für ein paar Stunden die Gedanken und Sorgen über die böse Zeit zu vergessen. Wir wanderten schweigend - die alte Legende fiel mir ein, nach der bisweilen einsame Wanderer irgendwo weit draußen im Land das Christwunder gefunden hatten: in einer Scheune, in einem winters über unbenutzten Viehstall, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegend, Ochs und Eselchen. Unwillkürlich schaute ich auf den Nebel, ob er sich nicht ein wenig heben und mir ein schwaches Licht aus jenem Stall weisen würde? Aber er hing unverrückt, weiß und schimmernd über den Wiesen. Dehnte sich dort nicht das Land unter dem Nebel weiter, immer weiter nach Osten, bis dahin, wo der Krieg wütete? Vielleicht starben jetzt gerade unzählige Menschen oder wurden verstümmelt. - Wieder wartete ich, diesmal mit Herzklopfen, daß der Nebel sich heben und mir den Krieg zeigen würde, von dem wir im Städtel bislang verschont geblieben waren. Der Nebel aber wich und rückte sich nicht. Weiß, schimmernd, hoch über ihm die Sterne, so war und blieb er unverändert vor mir. Doch die stillbeglückende Erwartung auf das Weihnachtswunder, der Schrecken, das Grauen von dem Kriege mischten sich in mir zu einer heimlichen Erregtheit, die sich - vielleicht nur mir spürbar - ebenso in der Nacht barg.

Dann waren wir wieder im Städtel und bald bei den Freunden. Kinderjubel, die Herzlichkeit der Eltern, Wärme und der verheißungsvolle Duft eines schlesischen Weihnachtsmahles empfingen uns. Es folgten friedliche, fröhliche Stunden. Die Jungen und Mädel standen wie die Orgelpfeifen vor dem Baum, er trug trotz der kargen Zeit seine brennenden Kerzen. Die Mutter hielt das Jüngste auf dem Arm, der Großvater lehnte am Kachelofen, während der Vater die Weihnachtsgeschichte vorlas. Hernach sangen wir die alten Lieder. Es war ein echter, schlesischer Heiliger Abend. Mir aber war zwischen dem vertraulichen Gespräch, der Mitfreude an der Kinderfreude, als drängten sich Kälte und Stummheit der Winternacht wie heimliche Drohung über die Wiesen her und umlagerten das Haus. Doch sie hatten über die guten Geister, die hier walteten, keine Macht.

Ich habe wohl nie so von Herzen eine Christnacht gefeiert wie jene - es war die des Jahres 1944.
Zoe Droysen, 1956