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Konrad Klose, Geschichte der Stadt Lüben, Verlag Kühn Lüben, 1924, S. 448/449
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Chirurgie, die er als Soldat im Lazarett der Kürassiere unter
seinem Lehrer, dem Regimentsarzt Geisler, von dem er immer
mit dankbarer Verehrung sprach, gelernt hatte, weiter, als da
war: Aderlassen, Zähneziehen, Schröpfen, Blutegelsetzen u. dergl.
Die damalige Zeit war sehr blutgierig. Bei den Landleuten
namentlich war der Aderlaß zur jährlichen Gewohnheit geworden.
Der Monat Mai galt als besonders geeignet dazu. Und so kamen
sie an den Sonntagen scharenweise herbei. Ich mußte für das
im Bogen fließende Blut das Becken unterhalten und sah manchen
armen robusten Schächer dabei ohnmächtig werden, nicht etwa
durch die Schmerzen - die sind ja gleich null -, sondern durch
den Anblick des strömenden Lebenssaftes. Bedenklicher und auf-
regender war das Ausziehen der Zähne, die meist mit dem
Schlüssel oder Pelikan genommen wurden, während man heut
die Zange verwendet. Der Lohn für solche Dienstleistung betrug
damals 2 bis 5 sgr. - Daneben betrieb der Vater, wie schon er-
wähnt, noch etwas Landwirtschaft auf dem von der Stadt gepach-
teten Acker und pflegte im Jahre zwei Schweine zu mästen, deren
gewaltsamer Tod dann Veranlassung zu einem sehr fröhlichen
Schlachtfest gab, wo man sich an Wellfleisch, Wellwurst und Wurst-
suppe delektierte und auch die ganze Nachbarschaft - je nach der
Stärke der Freundschaft - damit versorgte. Überhaupt war das
Verhältnis zu den Nachbarn immer ein sehr inniges; wir Kinder
untereinander spielten alle die schönen Spiele, die - uns unbe-
wußt - auf die Kräftigung des Körpers, auf die Ausbildung
des Auges so erzieherisch wirkten und heute - viel gewaltsamer -
durch allerhand Sport ersetzt werden müssen. An schönen Som-
merabenden aber saß man freundschaftlich auf den Bänken, die
vor den Häusern standen; die Alten wohl im Schlafrock und mit
der langen Pfeife, plauderten von Krieg und Kriegsgeschrei, wir
Jungen neckten die Mädchen, die ihren Strickstrumpf bearbeiteten,
oder zogen im Mondschein, während die Nachtigallen in den
blühenden Fliederbüschen der Gärten schlugen, um die Promena-
den, die schönen Volkslieder singend, die wir in der Schule oder
von der Mutter gelernt hatten: "In einem kühlen Grunde",
"Morgen muß ich fort von hier" oder "Wenn die Schwalben heim-
wärts ziehen" und dergleichen.
Die interessanteste Familie der Nachbarschaft war die
Dietrichsche. Der Hausherr war eine elegante Erscheinung, wie
sie dem Chef einer vornehmen Handlung zukommt, etwas korpu-
lent, im feinen schwarzen Rock; das rote Gesicht quoll behaglich
aus den spitzen Vatermördern vor. Die Frau aber schien
mir als ein Engel an Schönheit und Herzensgüte. Meine Mutter
sagte oft, sie sei der Königin Luise vergleichbar. Ein liebliches,
schmales Gesicht, zu beiden Seiten umrahmt von Hängelöckchen,
eine feine, gerade Nase, blaue Augen, und dabei von bestrickender
Liebenswürdigkeit gegen hoch und niedrig, wohltätig oft über ihr
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Vermögen, so steht sie in meiner Erinnerung. Sie hatte viele
Kinder, ihr am ähnlichsten war die Tochter Anna, meine Alters-
genossin, ein Mädchen von strahlender Schönheit. Sie heiratete
spät und erlitt einen qualvollen Tod bei der Geburt ihres ersten
Kindes, nachdem schon der Zusammenbruch ihres elterlichen Hauses
erfolgt war. Ein tragisches Schicksal! -
Das nächste Haus hinter der "Krone" steht zu der Straßen-
achse in einem stumpfen Winkel, es neigt sich der Vereinigung
mit der Niederglogauer Straße zu. Dieses langgestreckte, giebel-
lose Haus gehörte damals dem Goldschmied Lange, einem lahmen
Manne, der, wie man erzählte, in Australien unter die Goldsucher
gegangen war, aber sein Vermögen vielmehr durch Herstellung
von Universalpillen aus - Hühnermist erworben hatte. Im
ersten Stock wohnte der schon erwähnte Kreisgerichtsdirektor
Scheurich.
Gegenüber stand der Pulverturm, der ehemalige Torturm,
der seit einigen Jahren, nachdem sein Dach vom Blitz zerstört
wurde, nach den Anweisungen des Provinzialkonservators kunst-
gerecht erneuert ist. In ihm wurde damals armes Gesindel, das
der Stadt zur Last fiel, untergebracht. Er lehnt sich an ein schönes
altes Haus, das den großen Brand überdauert hat; seine Front
ist mit Medaillons geziert, die zwei deutsche Kaiser, wenn ich nicht
irre, Ferdinand und Matthias darstellen. Zu diesem Haus ge-
hörte ein schöner Garten im alten Wallgraben, auf dem jetzt das
Gerichtsgebäude steht. Von ihm durch ein enges Gäßchen ge-
schieden, wohnte der Bäckermeister Ulrich und neben diesem der Herr
Oberpastor. Vor dem Pastorenhause aber stand die "Pastorplumpe",
der man das beste Wasser in der ganzen Stadt nachrühmte. Viel-
leicht glaubte man, daß der Segen der Kirche auf ihm ruhe. Oft
habe ich von ihr einen Krug des köstlichen Nasses holen müssen.
Neben solchen Röhrbrunnen, die durch einen Schwengel be-
dient wurden, gab es in der Stadt auch Laufbrunnen, die ihr
Wasser außerhalb der Stadt durch eine Leitung bezogen. Diese
Leitung ging aus von drei mit einem pyramidenförmigen Schin-
deldach versehenen Sammelbecken, die sich auf der langsam auf-
steigenden Bodenfläche zwischen Altstadt und dem Oberauer Wege
in ziemlichem Abstande voneinander befanden. Die Anlage war
gewiß uralt, aber ihr Gefälle schwach, es reichte gerade nur für
das untere Stockwerk der Häuser. Ein solcher Laufbrunnen
rauschte auf unserer Straße vor dem Bäcker Obstschen Hinterhause;
es war jahrelang mein tägliches Vergnügen, von dort mehrere
Fahrten Wasser zum Hausgebrauch herbeizuschleppen, was ich
mir durch einen Holzreifen erleichterte, in welchem ich ging, und
der meine Hände mit den schweren Kannen von meinen aus-
schreitenden Beinen entfernt hielt. - Dem Pulverturm schräg-
über stand einzeln ein kleines einstöckiges Haus, an da ich mich
mit besonderer Dankbarkeit erinnere. Es war nicht leicht, hinein-