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 | Ein weiterer Brief über die Ereignisse des Jahres 1945, geschrieben ein Jahr später von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben.  Wer schreibt heute noch sechs Seiten lange Briefe? Ohne diese alten Briefe wüsste ich nur, was in den Geschichtsbüchern steht. 
 
 |  | Rudolstadt, den 7.2.1946 Meine liebe Frau Treder!
 Es ist rührend lieb
von Ihnen, in diesen traurigsten aller Zeiten mei-
 ner zu gedenken. Es war mir eine große Freude Ihre
 lieben Zeilen zu erhalten. Sie kamen allerdings zu
 einer Zeit an wo ich den Kopf voller Sorgen und das
 Herz voller Angst um meinen lieben Mann hatte. Er
 ist jetzt schon 2 Monate sehr, sehr krank so daß ich
 schon das allerschlimmste befürchtete.Daher erhalten
 Sie auch so spät meine Antwort auf Ihren lieben Gruß.
 Soeben hat er mir erklärt, daß ihm viel wohler heute
 Abend ist und wenn es so bleibt er sicher bald wieder
 den alten Lebensmut zurück gewinnt, was mich natürlich
 unendlich glücklich macht. Die furchtbaren Strapazen
 sind ja für ihn auch nicht ohne Folgen geblieben, denn
 die letzte Zeit dieses schrecklichen Krieges war ja auch
 für alt und jung ein dauerndes Hetzen und Jagen
 ob als Soldat oder Flüchtling. Mein armer Mann
 war doch zuletzt in Wien Soldat, und ist dann von
 dort zu Fuß über die Steiermark Salzkammergut
 Erzgebirge Vogtland Sachsen und nach Thüringen zu
 Fuß marschiert um mich zu suchen. Leider war ich
 aber nicht hier, trotzdem ich eine Freundin hier hatte.
 Ich war am 26. Jan. 1945 aus Lüben nachts um 23 Uhr mit
 einem Militärauto bis nach Sagan und von dort
 mit einem Eisenbahn Auto bis Cottbus gebracht worden.
 Hier war ich dann mit vieler Mühe und besonderem
 Glück bei einer guten Frau untergekommen. Ebenso
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 |  | war ich öfters bei Apotheker Köhler zu Gast gewesen, sodaß die Zeit bis zum 16. April ganz erträglich für
 mich wurde. * Frau Maerker war hier in der Nähe in Calau
 und fanden wir uns eines Tages im Februar auf der Straße
 in Cottbus wieder wo sie zum einkaufen war. Das war
 eine große Freude mitten auf der Straße.
 Vom 16. April begann dann meine große Leidenszeit,
 diese war so entsetzlich daß ich wirklich brieflich nicht da-
 rüber sprechen mag; denn jeder einzelne von uns hat
 ja die Kampftruppen erlebt. Am 22. Mai bin ich dann
 zu Fuß nach Lüben gelaufen. Auch das war grausam,
 jeden Tag 30-35 km. ohne die schrecklichen Erlebnisse
 unterwegs. In Lüben war ich dann vom 31. Mai bis
 28. Juni, wo wir das zweite Mal ausgewiesen
 wurden von den Polen.
 Lüben ist eine Stadt des Grauens geworden
 und ich sehne mich nie wieder dahin zurück, da ich
 es erlebte und wie? - - - - Man kann schon sagen
 95 % ist die Stadt kaputt und übrig bleibt be-
 stimmt nichts davon. Die Bahnhofstr. ist wunderbarer
 Weise gut erhalten geblieben nur die Fensterscheiben
 raus. Ebenso ist die Dragonerstr. zum Teil erhalten
 und die Kasernenstr. stellenweise auch. Doch in
 den Wohnungen überall gähnende Leere. Ich war
 am 17. Juni für 10 Min. in meiner schönen Wohnung,
 und ich beklage es unendlich daß ich mir nicht eine
 gute Erinnerung behalten konnte. Es ist einfach
 entsetzlich tragisch für uns alle, das Ende. Ein Aufbau
 in der Heimat fast unmöglich oder aber man muß
 sehr jung und gesund sein um das zu ertragen.
 * (Seitlich:) Mit Ausnahme des furchtbaren Bomben Terror
am 15. Febr. wo ich auch ausgebombt wurde.
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 |  | In Cottbus landete ich dann am 7. Juli und acht Tage später hatte mein lieber Mann mich gefunden. Das war ein
 Glück unbeschreiblich schön!
 Nun haben wir uns hier eine kleine Existenz aufge-
 baut. Meine Verwandten haben uns ein kleines Kapital
 vorgestreckt und haben wir uns ein kleines Geschäft auf-
 gebaut mehr engros Leder Artikel Kunstgewerbliche
 Dinge und verschiedene Spinnstoffsachen gegen Bezug-
 scheine. Es macht uns aber trotz der großen Schwierig-
 keiten Waren hereinzubekommen große Freude.
 Ich wünsche mir nur daß mein Mann recht bald gesund
 wird um wieder mit arbeiten zu können. Wir haben
 somit wenigstens in dieser kritischen schweren Zeit
 das Leben, und dies ist doch die Hauptsache. Alles Andere
 muß man abwarten.
 Meine Schwester* war erst in Sulzdorf
 Bayern, dann haben sie Gadebusch sen. nach Hess-Lichtenau
 geholt als Sekretärin und jetzt da die Lager aufge-
 löst werden geht sie wieder zurück zu ihrer Bäuerin
 bis auf Weiteres. Da man ja jetzt im Allgemeinen
 mit etwas Positivem nicht rechnen kann. Entschuldigen
 Sie bitte ich bin schon reichlich müde und abgespannt
 heut, und werde morgen den Brief beenden.
 Liebe Frau ...!  Heute am 8.2.46 schreibe
 ich nun weiter. Es war wieder mal ein aufregender
 Tag, erstens das Anstellen wegen der Butter usw.
 und man ist glücklich wenn man seine sieben Sachen
 glücklich ergattert. Wir sehen wie richtiggehende
 Hungerleider aus. Ob das noch einmal besser für
 * Melitta Tasche
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 |  | uns werden wird? So hofft man doch jedenfalls noch immer, und mit uns alle Heimatlosen; für die
 man ja in der Fremde kein Verständnis hat.
 Frau Hilde Hübner (Hotel grüner Baum) wohnt jetzt in
 Saalfeld, Wetzelstein 2.
 Frau Irmgard Kroll (Magistrat Lüben) wohnt
 Neundorf 109 bei Lobenstein Thür.
 Die Damen Ponikelsky (Mia u. Hanni) wohnen
 Langenstein über Halberstadt Schäferberg 188
 Frau Wally Krüger (Drogerie Steinauerstr.) wohnt
 in Eisenach, Christianstr. 33 bei Frau Börner.
 Fam. Maerker, Rudolstadt, Töpfergasse 1.
 Von Anita weiß ich leider auch nichts.
 Bäckermeister Gertig wohnt in Weimar.
 Dr. Riesebeck in Sonneberg.
 Frau Oberst Kupschus unsere Heimarbeiterin in
 Kunstgewerbl. Ledersachen, wohnt auch in Rudolstadt.
 Frisör Rosenau Greiz Rud. Breitscheidstr. 16
 ebenso Frau Schneidermeisterin Heppner.
 So ist das Leben, alles wird herum gewirbelt,
 und man ist glücklich wenn man eine Bleibe endlich
 mal hat. Sie haben ja auch allerhand Bitteres mit
 Ihren beiden Kleinen erlebt, und ist es mir sehr
 leid um Sie alle. Man darf halt nicht verzagen und
 muß ein festes Gottvertrauen haben. Ich wünsche
 Ihnen vor allem bald Ihren lieben Gatten zurück
 damit Sie recht schnell eine sichere Stütze haben im
 Kampf ums Leben. Es ist gut daß Sie nun
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 |  | wenigstens Ihren Herrn Vater zur Seite haben. Bleiben Sie vor allem gesund, und Ihre verehrte
 Frau Mutter wird Sie ja sicher in allem unter-
 stützen. Als ich in Lüben die vier Wochen gearbeitet
 habe, als erstes Landarbeit von morgens ½ 6 Uhr
 bis abends 10 Uhr mit einer Stunde Mittag, unent-
 wegt unter russ. Aufsicht, da ist man aber tot und
 kaputt sage ich Ihnen. Das Essen ging, denn nur als
 Landarbeiter bekam man dies, jegl. andere Arbeit
 mußte ohne Lebensmittelzuteilung geleistet werden.
 Das war manchmal unerträglich. Die zweite Arbeit
 war [Haus] Frisör Bessenroth von oben bis unten bereinigen.
 Als Unterstützung war mir Frau Schneidermeister Albrecht
 mit Tochter zugeteilt. Da haben wir auch Ihr Geschäft
 mit betrachten können, da sämtlicher Schutt in Ihren
 Hausflur gebracht wurde. Es sah trostlos aus.
 Danach wurde ich als Köchin zum poln. Kommandanten
 geschickt aber nur einen Tag machte ich das mit u.
 habe es dann abgelehnt, da ich 2 Polenmädels in der
 Küche hatte und keine Lebensmittel zur Verfügung
 bekam. Auf meinen Wunsch übernahm ich dann die
 Bereinigung der ersten Etage in der Kom. im
 Priesemuth-Haus; und da der Kom. mit mir zu-
 frieden war mußte ich ihm mit 2 anderen Mädels
 seine Villa einrichten in der Dragonerstr. (Keil-Villa)
 Es war sehr abwechslungsreich u. hätte sich
 ertragen lassen, wenn wir zu essen bekommen
 hätten, doch das Elend hörte nicht auf, bis heutigen
 Tags. Nun stumpft man langsam ab. Es gäbe noch
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 |  | viel mehr zu erzählen, doch will ich lieber aufhören, denn meine Epistel wird zu langatmig. Es ist zwar
 schön warm in unserm Zimmer fast 25 Grad.
 Haben Sie zufällig etwas über Fam. Klust
 erfahren und Fam. Blawid (Eisenbahn Lüben)
 Gadebusch jun. ist in Hannover u. Dr. Opitz
 in Oldenburg.
 In Rudolstadt wo wir wohnen ist es ganz ent-
 zückend, ein richtiges kleines Residenzstädtchen
 und alles heil und ganz geblieben; landschaftlich
 prachtvoll gelegen, jetzt 20 000 Einwohner, aber
 die meisten Menschen stur und gefühllos wie bei
 Ihnen dort, helfen kommt garnicht in Frage. Nur
 wenige Ausnahmen gibt es, und dazu zählen an
 erster Stelle meine Wirtsleute. Bei denen
 sind wir prima untergebracht, nachdem wir
 schon zweimal hier gezogen sind. Das erstemal
 wurde die Villa wo wir wohnten beschlagnahmt
 von den Russen. Das zweite Mal starb der
 Vater unserer Wirtin u. somit bekam ihre Mutter
 das Zimmer. Wir sind dadurch endlich mal zu
 lieben und netten Leuten gekommen.
 Nun aber Schluß für heut, seien Sie mit
 Ihren Lieben allen, auf das herzlichste gegrüßt
 mit vielen guten Wünschen für Sie alle
 Ihre Ly Tamm
 Mein Mann schließt sich mir bestens an.
 
 |  | Elisabeth Tasche ist auf einem Kindergartenbild von 1903 zu sehen! |  |