Fluchtbericht der Elisabeth Tamm geb. Tasche
Pauline Tilgner (1880-1973)














Ein weiterer Brief über die Ereignisse des Jahres 1945, geschrieben ein Jahr später von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben. Wer schreibt heute noch sechs Seiten lange Briefe? Ohne diese alten Briefe wüsste ich nur, was in den Geschichtsbüchern steht.

Fluchtbericht von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben, S. 1 Rudolstadt, den 7.2.1946

Meine liebe Frau Treder!

Es ist rührend lieb
von Ihnen, in diesen traurigsten aller Zeiten mei-
ner zu gedenken. Es war mir eine große Freude Ihre
lieben Zeilen zu erhalten. Sie kamen allerdings zu
einer Zeit an wo ich den Kopf voller Sorgen und das
Herz voller Angst um meinen lieben Mann hatte. Er
ist jetzt schon 2 Monate sehr, sehr krank so daß ich
schon das allerschlimmste befürchtete.Daher erhalten
Sie auch so spät meine Antwort auf Ihren lieben Gruß.
Soeben hat er mir erklärt, daß ihm viel wohler heute
Abend ist und wenn es so bleibt er sicher bald wieder
den alten Lebensmut zurück gewinnt, was mich natürlich
unendlich glücklich macht. Die furchtbaren Strapazen
sind ja für ihn auch nicht ohne Folgen geblieben, denn
die letzte Zeit dieses schrecklichen Krieges war ja auch
für alt und jung ein dauerndes Hetzen und Jagen
ob als Soldat oder Flüchtling. Mein armer Mann
war doch zuletzt in Wien Soldat, und ist dann von
dort zu Fuß über die Steiermark Salzkammergut
Erzgebirge Vogtland Sachsen und nach Thüringen zu
Fuß marschiert um mich zu suchen. Leider war ich
aber nicht hier, trotzdem ich eine Freundin hier hatte.
Ich war am 26. Jan. 1945 aus Lüben nachts um 23 Uhr mit
einem Militärauto bis nach Sagan und von dort
mit einem Eisenbahn Auto bis Cottbus gebracht worden.
Hier war ich dann mit vieler Mühe und besonderem
Glück bei einer guten Frau untergekommen. Ebenso

Fluchtbericht von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben, S. 2 war ich öfters bei Apotheker Köhler zu Gast gewesen,
sodaß die Zeit bis zum 16. April ganz erträglich für
mich wurde. * Frau Maerker war hier in der Nähe in Calau
und fanden wir uns eines Tages im Februar auf der Straße
in Cottbus wieder wo sie zum einkaufen war. Das war
eine große Freude mitten auf der Straße.
   Vom 16. April begann dann meine große Leidenszeit,
diese war so entsetzlich daß ich wirklich brieflich nicht da-
rüber sprechen mag; denn jeder einzelne von uns hat
ja die Kampftruppen erlebt. Am 22. Mai bin ich dann
zu Fuß nach Lüben gelaufen. Auch das war grausam,
jeden Tag 30-35 km. ohne die schrecklichen Erlebnisse
unterwegs. In Lüben war ich dann vom 31. Mai bis
28. Juni, wo wir das zweite Mal ausgewiesen
wurden von den Polen.
   Lüben ist eine Stadt des Grauens geworden
und ich sehne mich nie wieder dahin zurück, da ich
es erlebte und wie? - - - - Man kann schon sagen
95 % ist die Stadt kaputt und übrig bleibt be-
stimmt nichts davon. Die Bahnhofstr. ist wunderbarer
Weise gut erhalten geblieben nur die Fensterscheiben
raus. Ebenso ist die Dragonerstr. zum Teil erhalten
und die Kasernenstr. stellenweise auch. Doch in
den Wohnungen überall gähnende Leere. Ich war
am 17. Juni für 10 Min. in meiner schönen Wohnung,
und ich beklage es unendlich daß ich mir nicht eine
gute Erinnerung behalten konnte. Es ist einfach
entsetzlich tragisch für uns alle, das Ende. Ein Aufbau
in der Heimat fast unmöglich oder aber man muß
sehr jung und gesund sein um das zu ertragen.

* (Seitlich:) Mit Ausnahme des furchtbaren Bomben Terror
am 15. Febr. wo ich auch ausgebombt wurde.

Fluchtbericht von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben, S. 3 In Cottbus landete ich dann am 7. Juli und acht Tage
später hatte mein lieber Mann mich gefunden. Das war ein
Glück unbeschreiblich schön!
   Nun haben wir uns hier eine kleine Existenz aufge-
baut. Meine Verwandten haben uns ein kleines Kapital
vorgestreckt und haben wir uns ein kleines Geschäft auf-
gebaut mehr engros Leder Artikel Kunstgewerbliche
Dinge und verschiedene Spinnstoffsachen gegen Bezug-
scheine. Es macht uns aber trotz der großen Schwierig-
keiten Waren hereinzubekommen große Freude.
Ich wünsche mir nur daß mein Mann recht bald gesund
wird um wieder mit arbeiten zu können. Wir haben
somit wenigstens in dieser kritischen schweren Zeit
das Leben, und dies ist doch die Hauptsache. Alles Andere
muß man abwarten.
   Meine Schwester* war erst in Sulzdorf
Bayern, dann haben sie Gadebusch sen. nach Hess-Lichtenau
geholt als Sekretärin und jetzt da die Lager aufge-
löst werden geht sie wieder zurück zu ihrer Bäuerin
bis auf Weiteres. Da man ja jetzt im Allgemeinen
mit etwas Positivem nicht rechnen kann. Entschuldigen
Sie bitte ich bin schon reichlich müde und abgespannt
heut, und werde morgen den Brief beenden.
   Liebe Frau ...! Heute am 8.2.46 schreibe
ich nun weiter. Es war wieder mal ein aufregender
Tag, erstens das Anstellen wegen der Butter usw.
und man ist glücklich wenn man seine sieben Sachen
glücklich ergattert. Wir sehen wie richtiggehende
Hungerleider aus. Ob das noch einmal besser für

* Melitta Tasche

Fluchtbericht von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben, S. 4 uns werden wird? So hofft man doch jedenfalls
noch immer, und mit uns alle Heimatlosen; für die
man ja in der Fremde kein Verständnis hat.
Frau Hilde Hübner (Hotel grüner Baum) wohnt jetzt in
Saalfeld, Wetzelstein 2.
Frau Irmgard Kroll (Magistrat Lüben) wohnt
Neundorf 109 bei Lobenstein Thür.
Die Damen Ponikelsky (Mia u. Hanni) wohnen
Langenstein über Halberstadt Schäferberg 188
Frau Wally Krüger (Drogerie Steinauerstr.) wohnt
in Eisenach, Christianstr. 33 bei Frau Börner.
Fam. Maerker, Rudolstadt, Töpfergasse 1.
Von Anita weiß ich leider auch nichts.
Bäckermeister Gertig wohnt in Weimar.
Dr. Riesebeck in Sonneberg.
Frau Oberst Kupschus unsere Heimarbeiterin in
Kunstgewerbl. Ledersachen, wohnt auch in Rudolstadt.
Frisör Rosenau Greiz Rud. Breitscheidstr. 16
ebenso Frau Schneidermeisterin Heppner.
So ist das Leben, alles wird herum gewirbelt,
und man ist glücklich wenn man eine Bleibe endlich
mal hat. Sie haben ja auch allerhand Bitteres mit
Ihren beiden Kleinen erlebt, und ist es mir sehr
leid um Sie alle. Man darf halt nicht verzagen und
muß ein festes Gottvertrauen haben. Ich wünsche
Ihnen vor allem bald Ihren lieben Gatten zurück
damit Sie recht schnell eine sichere Stütze haben im
Kampf ums Leben. Es ist gut daß Sie nun
Fluchtbericht von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben, S. 5 wenigstens Ihren Herrn Vater zur Seite haben.
Bleiben Sie vor allem gesund, und Ihre verehrte
Frau Mutter wird Sie ja sicher in allem unter-
stützen. Als ich in Lüben die vier Wochen gearbeitet
habe, als erstes Landarbeit von morgens ½ 6 Uhr
bis abends 10 Uhr mit einer Stunde Mittag, unent-
wegt unter russ. Aufsicht, da ist man aber tot und
kaputt sage ich Ihnen. Das Essen ging, denn nur als
Landarbeiter bekam man dies, jegl. andere Arbeit
mußte ohne Lebensmittelzuteilung geleistet werden.
Das war manchmal unerträglich. Die zweite Arbeit
war [Haus] Frisör Bessenroth von oben bis unten bereinigen.
Als Unterstützung war mir Frau Schneidermeister Albrecht
mit Tochter zugeteilt. Da haben wir auch Ihr Geschäft
mit betrachten können, da sämtlicher Schutt in Ihren
Hausflur gebracht wurde. Es sah trostlos aus.
Danach wurde ich als Köchin zum poln. Kommandanten
geschickt aber nur einen Tag machte ich das mit u.
habe es dann abgelehnt, da ich 2 Polenmädels in der
Küche hatte und keine Lebensmittel zur Verfügung
bekam. Auf meinen Wunsch übernahm ich dann die
Bereinigung der ersten Etage in der Kom. im
Priesemuth-Haus; und da der Kom. mit mir zu-
frieden war mußte ich ihm mit 2 anderen Mädels
seine Villa einrichten in der Dragonerstr. (Keil-Villa)
Es war sehr abwechslungsreich u. hätte sich
ertragen lassen, wenn wir zu essen bekommen
hätten, doch das Elend hörte nicht auf, bis heutigen
Tags. Nun stumpft man langsam ab. Es gäbe noch
Fluchtbericht von Elisabeth Tamm geb. Tasche aus Lüben, S. 6 viel mehr zu erzählen, doch will ich lieber aufhören,
denn meine Epistel wird zu langatmig. Es ist zwar
schön warm in unserm Zimmer fast 25 Grad.
Haben Sie zufällig etwas über Fam. Klust
erfahren und Fam. Blawid (Eisenbahn Lüben)
Gadebusch jun. ist in Hannover u. Dr. Opitz
in Oldenburg.
In Rudolstadt wo wir wohnen ist es ganz ent-
zückend, ein richtiges kleines Residenzstädtchen
und alles heil und ganz geblieben; landschaftlich
prachtvoll gelegen, jetzt 20 000 Einwohner, aber
die meisten Menschen stur und gefühllos wie bei
Ihnen dort, helfen kommt garnicht in Frage. Nur
wenige Ausnahmen gibt es, und dazu zählen an
erster Stelle meine Wirtsleute. Bei denen
sind wir prima untergebracht, nachdem wir
schon zweimal hier gezogen sind. Das erstemal
wurde die Villa wo wir wohnten beschlagnahmt
von den Russen. Das zweite Mal starb der
Vater unserer Wirtin u. somit bekam ihre Mutter
das Zimmer. Wir sind dadurch endlich mal zu
lieben und netten Leuten gekommen.
Nun aber Schluß für heut, seien Sie mit
Ihren Lieben allen, auf das herzlichste gegrüßt
mit vielen guten Wünschen für Sie alle

Ihre Ly Tamm

Mein Mann schließt sich mir bestens an.

Elisabeth Tasche ist auf einem Kindergartenbild von 1903 zu sehen!