Hans Dieter Lotz   "Das Erinnern des Flüchtigen"
Elisabeth Ludewig (1923-2011)














Hans Dieter Lotz wurde im Jahr 1928 in der schlesischen Kleinstadt Lüben geboren. Mehr als achtzig Jahre später schrieb er auf, woran er sich erinnert, wenn er an seine Kindheit und Jugend zurückdenkt. Es sind anspruchsvolle Aufzeichnungen, weil sie sich nicht in der Schilderung von Ereignissen erschöpfen, sondern durch eine Vielzahl von Assoziationen Nachdenken und Fantasie des Lesers anregen und ihn zu neuen Erkenntnissen führen können. Dabei werden Orte und Personen Lübens auf unverwechselbare Weise lebendig. Wenn Sie möchten, finden Sie auf meiner Website das eine oder andere Bild dazu. Es ist mir eine Ehre, dass der Autor mein Projekt für die Veröffentlichung seiner Erinnerungen ausgewählt hat. Hans Dieter Lotz würde sich über ein Feedback seiner Leser per E-Mail freuen. Wenn Sie mir eine Kopie schicken, veröffentliche ich Ihre Meinung auch gern im Gästebuch. Heidi



Hans Dieter Lotz

DAS ERINNERN
DES FLÜCHTIGEN


Der Erste Teil

Lüben in Schlesien

Geschrieben 2011/12

Alle Rechte beim Verfasser



Eine Anmerkung vorab

Diese Geschichte ist geschehen, damals, zu einer Zeit, die beinahe vergessen ist, dem Bewußtsein entschwunden. Und auf ähnliche Weise trifft sie viele, Tausende, sicher Hunderttausende oder gar noch mehr. Außerdem ist sie geschehen in einem Land, an das kaum einer mehr denkt, über das jedes Wissen verloren ist. Und dennoch ist diese Geschichte geschehen in Deutschland, dem von damals jedenfalls. Sie ist freilich lange her, mehr als ein halbes Jahrhundert schon. Nicht viele also gibt es, deren Geburt und Erinnerung noch reichen in die Tiefe des Vergangenen. Und Erinnerungen sind blaß der gnadenlosen Zeit wegen und darum sehr persönlich und so wieder ohne letzte Beweiskraft für das ungeheuerliche Geschehen.

Das Land, in dem sich alles ereignete, ist verschwunden von der Landkarte - so war es auch geplant von manchen - und schließlich verschwunden auch aus dem Wissen. Man möchte das eigentlich nicht für glaubhaft halten - aber es ist so. Auch der eigenen Schuld wegen und der Ungeheuerlichkeiten, begangen von jenem Deutschland von einst. Das war ein anderes als das von heute.

Wer in jetzigen Tagen sich erinnert als ein halbwegs Wissender, der war jung damals, ein Kind eigentlich noch. Unbedarft fröhlich waren diese Kinder wohl, staunten mit großen Augen in die Welt, und diese Welt schien ihnen schön und wenig schwierig. Das Land vor ihnen leuchtete voll der Wunder - sie wußten das freilich nicht in ihrer Kindlichkeit. So wurde unbewußte Tiefe des Empfindens die Sicherheit unbefragter Existenz. Das Land, seine Schönheit, ihr eigenes Dasein - alles schien selbstverständlich und ohne Frage. Warum auch hätte man fragen sollen? Sie hätten es ohnehin nicht gekonnt, schließlich waren sie Kinder - eine Zeitlang noch.

Aber etwas schlich sich heran, nicht zu begreifen zunächst, doch es kroch heran, nistete sich ein. Einige, beileibe nicht alle, mochten es spüren vielleicht, zaghaft, wider eigenen Willen, schmerzhaft, und gerade darum voller Unbehagen, nicht wissend, was eigentlich war. Uniformen allenthalben, Fahnen überall, lautstarke Reden im Rundfunk und draußen eine Welt von Feinden? Deshalb vielleicht? Auch sie, die Kinder, hatten braune Uniform im "Dienst" des großen Anführers zu tragen. Eine Pflicht war es und ein gewichtiger und entscheidender "Dienst", der ihnen da aufgetragen war. Jung waren sie und dumm natürlich auch, mochten gerne glauben an Größe und Ewigkeit, blieben darum voll des guten Willens, glaubten also und zweifelten unbehaglich leise, wollten aber Zweifel nicht wahrhaben, nicht einmal vor sich selber, und so leugneten sie und belogen sich im Herzen selber. Wirkliche Ahnung aber von dem, was sich zusammenbraute über Land und Menschen, über Schuldige wie über Gerechte, darf man von ihnen nicht verlangen.

Dennoch sind sie die letzten, die noch wissen darum, wenig freilich und kindlich eingeschränkt, sehr persönlich also und fragmentarisch, doch erlebt und dann erlitten. Andere, Ältere nämlich, sind da nicht mehr, die mehr hätten wissen müssen und sich hätten verweigern sollen dem, was sie doch mit ihrer Stimme und Wahl heraufbeschworen hatten.

Das ist nie wieder gutzumachen.

Denn das Land, fruchtbar prangend zu Seiten der Oder, voll der Städte und Dörfer, mählich ansteigend zu den rauhen Höhen des Sudetenkammes gegen Böhmen hin - dieses Land gibt es nicht mehr. Seine Bewohner verstreut in die Welt, Land und Städte nun fremd. Das Wissen gar darum, Erinnerungen der Jahrhunderte - vergangen sind sie und nie rückholbar.

Schlesien also - verloren auf alle Zeit.



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