Fluchtbericht der Gertrud Otto (1909-1958)
Briefträgerin Clara Rüst-Passon * 1916














Im Jahr 1946 beschrieb Gertrud Otto (verh. Krauß), die wie meine Großeltern in der Lübener Kasernenstr. 13 gewohnt hatte und als Schneiderin des Brautkleids meiner Mutter an der Hochzeit meiner Eltern teilgenommen hatte, in einem
Brief an meine Mutter die Flucht ihrer Familie aus Lüben:

Fluchtbericht von Gertrud Otto aus Lüben, S. 1 Sulzbach-Rosenberg-Hütte, d. 16.1.46
Liebe Ursel!
Vielen herzlichen Dank für deinen Brief und die Wünsche für das
neue Jahr. Auch wir wünschen Euch alles Gute vor allem Gesundheit.
Ich hatte schon vor an Lottes Adresse zu schreiben, weil ich annahm, daß
Ihr in Taucha seid. Durch Grete Meywald erfuhr ich daß Ihr in Leipzig
gelandet seid. Liebe Ursel wir haben uns auch oft Gedanken gemacht,
wie Ihr alle raus gekommen seid. Durch Frau Berndt die uns in Görlitz
aufsuchte, hatten wir erfahren, daß Ihr noch Sonntag früh im Haus wart.
Wir sind wie du annimmst nicht am 27.1. mittags weggefahren. Wir
sind doch von der Bahn noch mal zurück, weil doch durch den Lautsprecher
Studienrat Fiedler verkündete, daß der Ru. 80 km zurück gedrückt
worden ist. Vater wollte darauf hin doch nicht fort. Als es abends
um 22.30 los ging, waren wir doch noch in unserer Wohnung. Daß der
Flugplatz in die Luft ging und daß es in Mallmitz brannte haben
wir noch mit erlebt. Wir sind Nachts ½ 2 Uhr aus dem Haus.
Kamen bis auf die Breitestraße da wurden wir von unseren
Soldaten von der Straße gejagt. Aus dem Hitlerpark schossen
sie mit Maschinengewehren. Wir wollten im Anker* in den Luft-
schutzkeller da wurden wir aber nicht rein gelassen wegen
Überfüllung; dann sind wir zur Frau Liebe. Das Haus war offen
und eine junge Frau aus dem Hinterhaus stand vor der Tür.
Die sagte uns, daß Fr. Liebe mit Selters schon fort ist. Bei dieser
Frau haben wir die Nacht verbracht. Ein Mann aus Guhrau
wohnte bei ihr. Der ging ab und zu mal sehen wie es auf der
Straße aussah um ½ 5 Uhr hörte doch die Schießerei etwas auf.
Ich habe der Frau noch helfen packen denn die hatte auch viel zu
viel eingepackt auch ein kleines Kind von ¾ Jahr und 14 J.
Um 6 Uhr bin ich dann mit den Eltern zur Bahn. Da stand ein
unendlich langer Güterzug da, aber schon alles überfüllt. Als
wir fragten hieß es schon alles überfüllt. 2 Wagen die ganz
offen ohne jeglichen Rand waren noch zur Verfügung. 2 Soldaten
Bewachung für den ganzen Zug. Diese beiden haben den Eltern
geholfen daß sie rauf kamen. Der Zug setzte sich schon in Bewegung

* Lübener "Gasthof zum gold'nen Anker"

Fluchtbericht von Gertrud Otto aus Lüben, S. 2 lag Vater auf dem Bauch Muttel auf dem Rücken alles voll Schnee. Und dazu
diese grimmige Kälte es war wohl also der letzte Zug der aus Lüben
raus ging. Hätte ich nicht als wir auf dem Bahnhof ankamen
bei einer Schwester aus dem Säuglingsheim geholfen, einen
Säugling in den Zug tragen, wären wir mit dem Zug nicht
mit gekommen; denn dadurch habe ich die leeren Wagen gesehen.
Es war ein furchtbares Elend die Mütter waren schon in den Waggons
und schrien nach ihren Kindern und Schwester Berthen raste immer
hin u. her ob die Schwestern nicht mit den Säuglingen kommen.
Der Lokführer wollte fahren die Soldaten schrien wieder dazwischen
wenn der Hund abfährt schießen wir ihn übern Haufen. Nach 3
stündiger Fahrt sind wir in Liegnitz gelandet die ersten Verwundeten
von der Nacht sind mit diesem Zug auch befördert worden. Ohne
jegliche Hilfe Schwester-Verbandszeug war nichts vorhanden. In
Liegnitz hatten wir dann Glück. Ein Offizier und 1 Feldwebel haben
uns dann abgeholfen bis in die Halle denn der Zug war ganz
aus Liegnitz rausgefahren die Eltern waren vollkommen steif
von der Kälte. Um Muttel hatte ich große Sorge sie schlug am ganzen
Körper . Der Offizier machte mich aufmerksam, daß um 12 Uhr 2 Züge
in Liegnitz eingesetzt würden 1 Zug Berlinerstrecke der andere Dresden.
Ich wußte im Moment nicht zu was ich mich entschließen sollte.
Wir sind dann der Eltern wegen nach Görlitz. Dort kamen wir
dann am 28.1. Nachts 1 Uhr an. In Görlitz auf dem Bahnhof
trafen wir mit Petaris, Feiges und Jantke aus der Kaserne
und Dr. Riesebeck zusammen. Riesebecks erzählten sie hätten
alles stehen lassen die hatten nicht einen Koffer bei sich.
Wir sind dann 3 Wochen in Görlitz geblieben die lachten uns
aus daß wir nach Mecklenburg wollten, weil noch jeder glaubte,
es muß wieder anders kommen. In Görlitz haben mich die Berthner
Mädel besucht die waren auch alle 3 mit Großmutter und den Kindern
dort. Die sind mit dem selben Güterzug und von Liegnitz mit dem
selben Zug da haben wir uns aber nicht gesehen. Irma Ermlich
habe ich auch noch getroffen. Von Görlitz sind wir nun am
Fluchtbericht von Gertrud Otto aus Lüben, S. 3 18.2. früh mit einem Lastauto geflüchtet und zwar bis Seifhennersdorf.
Dort haben wir übernachtet. Dann mußte jeder sehen, wie er weiter
kommt. Bei uns waren Sorges und Schaffmanns. Durch dass wir mit
dem Lastauto gefahren sind kamen wir ganz von unserer Strecke ab.
Wir fuhren dann mit dem Zug bis Warnsdorf. Dort wurde ein
Flüchtlingszug zusammengestellt. Überall hieß es schon: Sieh zu daß
Sie über die Elbe kommen. Mit diesem Flüchtlingszug ging es nur
im Schneckentempo über Tetschen-Bodenbach, Aussig, Teplitz-Schönau
Brüx Komotau Karlsbad Eger Bayreuth Amberg Sulzbach
Rosenberg-Hütte. Diese Fahrt war eine Qual Hunger Kälte 8 Tage
ohne eine warme Suppe oder einen Tropfen Kaffee. Nachts blieb
der Zug oft Stunden lang auf freier Strecke stehen. Als wir hier an
kamen mußten wir 5 Tage in Baracken die Verpflegung war
gut wurden vom Werk aus verpflegt. Dann wurden wir in
Quartiere verteilt. Da hatten wir wieder Glück allerdings sehr klein
und kalt. aber allein. 1 Schlafzimmer, 2 Betten, Küche mit 1 Sofa. Der Mann
dem die Wohnung gehört ist im Osten vermißt und die Frau vor 4
Jahren gestorben. Seine Eltern haben die Wohnung zur Verfügung
stellen müssen. Da wir keine Kinder hatten wurde uns diese W.
zugedacht. Im Sommer haben wir uns auch ordentlich geplagt. Alle
Tage in den Wald oder dann später nach Beeren oder Pilze. wir haben
50 Pfund Blau und 30 Pfund Preißelbeeren geholt. Die Eltern sind derart
mager es ist furchtbar. Als ich mal in Lützbach war, traf ich Frau Kühn
e. Kusine von Magda Laubner Du glaubst nicht, wie wir uns gefreut
haben. Sie wohnt bloß weit von uns entfernt. Sie muß 2 Stunden mit dem
Rad fahren bis sie hier ist. Am Sonnabend vor dem Heiligen Abend
kam sie mal auf 2 Stunden. Sie sagte, sie muß sich noch
schnell ein Stückchen Heimat holen. Durch Frau Kühn erfuhr ich
daß im Kreis Lützbach Schneidermeister Phillipp aus Lüben ist.
Im Kreis Amberg auch nicht weit von uns der Opitz und Zahnarzt Meyer.
Liebe Ursel du schreibst gar nicht wo Laubners sind? Ist die Berndt in
Leipzig? Frau Kühn hätte so gern Grete Laubner auch gegrüßt.
Fluchtbericht von Gertrud Otto aus Lüben, S. 4 An dich und deine beiden kleinen Würmchen haben wir schon oft gedacht.
Ich glaube es gern, daß es eine große Plage ist. und nur hoffentlich bleiben
sie gesund. Am 4.1. bekamen wir Post von unserer Lotte Frau Klipsch und
Grete waren bei ihr. Wir hofften immer, daß sie aus Rechlin raus sind.
aber nun teilt sie uns mit, daß sie geblieben sind Das Herz blutet einem
wenn man diesen Brief liest. Aus ihrem Haus mußten sie raus. Sie durften
nur mitnehmen was sie auf dem Hals hatten. Es ist ihnen alles genommen
worden die Möbel abtransportiert. In dem Haus ist russische Besatzung.
Sogar ihren Trauring haben sie ihr nicht gelassen. Sie schreibt, das einzige
was ihr geblieben ist, daß wir nicht vergewaltigt worden sind
und davon haben uns die Kinder geschützt. 100 Menschen sind gleich
in den See gegangen. Sie haben auch schon oft ihrem Leben ein Ende machen
wollen aber 4 Kinder umbringen dazu fehlt ihr der Mut. Giselher
bittet immer wieder Mutti laß uns weiter leben vielleicht wird es
noch gut. Ach Ursel, wenn man das liest, brichts einem das Herz.
Brigitchen die Jüngste hat gebeten Mutti, möchte doch an Vatis
Weihnachtsmann schreiben, ob er nicht ein Püppchen für kleine Mädchen
hat oder wenigstens etwas zu essen. Sie haben nur trocken Brot und Kartoffeln
Sie schreibt wie lange wir es noch aushalten wissen wir nicht. Lotte und Grete müssen
Landarbeit machen erst 14 Stunden jetzt 8. Von Hellmuth* hat Lotte jetzt auch Post.
Hellmuth ist noch mal als Kompanieführer an der Front gewesen Er
hat als Hauptmann an der Oderfront das ganze "Ende" miterlebt und
ist in englischer Gefangenschaft gewesen. Wir bekamen am 13.1.
Post aus Schleswig-Holstein von ihm. Er schreibt eben entlassen stehe
ich als Heimatloser auf der Straße. Was sollen bloß die Männer mal
anfangen. Das Elend ist riesengroß. Hellmuth schreibt auch er hatte
sich das Jahr 45 anders gedacht. Wir hofften doch alle die goldene Hochzeit
der Eltern im Kreise der Familie nett zu feiern. Und nun waren wir so
fern von unserer Heimat. Für solch alte Leute ist es auch furchtbar.
Wir hoffen nun daß Hellmuth zu uns kommt. Lotte möchte dort
auch gern weg denn eine Exsistenz kann sich Hellmuth dort nie mehr
aufbauen. Nun will ich für heut schließen hoffentlich kannst das
alles lesen man ist so aufgeregt dir deinen Eltern und den
beiden Kleinen alles Gute und recht herzliche Grüße
von deiner Trudel nebst Eltern
Hoffentlich kommt der Brief gut an.

* Hellmuth Otto war Trudels Bruder, Lotte vermutlich seine Frau.


Gertrud Otto und ihre Eltern, Foto aus der Nachkriegszeit

Gertrud Otto und ihre Eltern, LHB 4/1963. Gibt es Nachfahren der Familie Otto?