Wandern in der niederschlesischen Heide, Bruno Clemenz, 1910
Kreis Lüben














Wandern und Schauen
in der Heimat


Dorf-, Stadt- und Landschaftsbilder

aus Schlesien
Von Bruno Clemenz (1873–1935).





Ich soll das Glück in meiner Heimat finden;
hier, wo der Knabe fröhlich aufgeblüht,
wo tausend Freudespuren mich umgeben,
wo alle Quellen mir und Flüsse leben. .... Schiller.



Liegnitz 1910
Druck und Verlag der Buch- und Kunstdruckerei H. Krumbhaar

Bilder aus der niederschlesischen Heide

Wir haben es von Liegnitz aus so leicht, in die Heide zu ge-
langen. Der Liegnitzer Stadtforst ist schnell erreicht. Da finden
wir schon die Namen Vorderheide und Hinterheide. Und
diese Heide hat ein gütiges Geschick noch ziemlich nahe an Liegnitz
heran erhalten. Nördlich von Pfaffendorf, zwischen den Dör-
fern Hummel und Panten, beginnt sie. Dort hat freilich schon
die moderne Stadtkultur ein modernes Werk hineingesetzt, die
Rieselfelder - und der Sand mag sich wundern, daß ihn dort
Kraut und Gurken verhüllen. Aber der Heidecharakter mit Kiefern
und Birken ist noch gewahrt. Poetische Gemüter vermögen dort
noch zu träumen und zu dichten, und ich gebe unserer heimischen
Dichterin Elsa Hielscher-Panten (DNVP) recht, wenn sie singt:

   Viele Lieder preisen
   Meere und Höh'n -
   Wenigen nur bekannt,
   Träumt hier mein stilles Land
   Und ist so wunderschön.

Zum Naturgenuß gehört wie zum Kunstgenuß Einfühlung
und ein wenig Verständnis für das, was von Natur, Geschichte und
Sage am Landschaftsbilde haftet. Und das hat in reicher Ver-
bindung die genannte Dichterin zu eigen, die den Katzbachstrand,
die Herbststürme vom Föhrenwald her, den Burgwall bei Panten,
den Rehberg mit seinen historischen Zeichen so innig zu ver-
knüpfen und zu beseelen weiß. In solcher Beseelung findet das
Gemüt Befriedigung und Glück. Darin besteht das Wesentliche
des Naturgenusses, wie ein großer Geograph gesagt hat: "Natur-
genuß ist Zwiesprache der Welt außen mit der Welt in uns."

Eine Vorahnung eines Heidedorfes geben die Dörfer
Würtsch-Helle, Buchwald, Kaltwasser und Fuchs-
mühl
. Sie liegen in herausgearbeiteten Gewannen der ehemalig
geschlossenen Wälder. Kaltwasser erklärt mit seinem Namen,
daß die Gegend auch vom Wasser bestimmt wird, aber vom Wasser,
das landwirtschaftlich nicht günstig ist. Das Wasser ist stehend ge-
worden und hat den Boden "kalt" gemacht. Stimmungsvoll
sind der Dorfteich und der Wasserwald. Nicht minder auch die
Wassermühle, die uns immer an das Kernersche Lied erinnert
"Dort unten in der Mühle..." Der Wasserwald muß den
Botaniker besonders reizen. Da liegt der feuchte, frische
Wiesenplan, umrahmt von lichtem Erlengebüsch und hohem Laub-
wald. Da findet er Sumpf-Schachtelhalm und als ungewöhnlichen
Gegensatz den Strandhafer. Mancher Sänger singt hier noch un-
belohnt von Menschendank, aber auch unverfolgt von Menschen-
hand. Ein lieblicher Geselle, die Blaurake oder Mandelkrähe, mit
auffallend schönem Gefieder, schwingt sich von Baum zu Baum -
auch eine Naturfreude für uns.

Wir wenden uns für heute einmal mit der Landstraße nach
Norden auf Sabitz zu. Wir kommen, sobald Fuchsmühl hinter
uns ist, nicht aus dem geschlossenen Walde heraus. Hier schaut
auch ein kleiner Tümpel durch das Holz, übersät von weißen und
gelben Seerosen, ein prächtiges Bild inmitten des Einerlei. Jetzt
steigen wir hinauf auf die 170 Meter hohen Brändel-Berge und
übersehen den langen ansteigenden Weg, den wir zurückgelegt
haben, sehen die Wipfelreihen der stummen Wälder. Ein kleiner
Überblick ist schön, und gern weilt man hier etwas und denkt an
die Seinen zuhause, daß sie mit uns das Glück des ungetrübten
Naturgenusses empfinden möchten.

Die größte Kulturfläche in diesem Stück Heide nimmt das
große Dorf Seebnitz ein, das wir bald hinter dem viel kleineren
Sabitz erreichen. Schon von großer Entfernung imponiert es
mit seinem eigenartigen rundlichen Turm der großen evangelischen
Kirche. Ein sanftes Gefälle bringt uns ins Dorf, das sich mit seiner
breiten Dorfstraße und seiner ganzen Anlage nach als gar stattlich
erweist. Heute hat es etwa 1000 Einwohner, aber früher ist seine
Bevölkerungszahl größer gewesen. Wir sind durch die alter-
tümliche Brauerei zur Erholung eingeladen und sehen uns das
Dorf im Morgengewande an. Die alte, einst katholische Kirche
wirkt jetzt mächtiger durch ihr doppelt gerundetes Kirchenschiff, als
durch den zum Teil hölzernen Turm mit kugeligem Abschluß.
Ringsum ein alter, friedlicher Kirchhof mit schattigen Bäumen.
Davor ein großer Platz, Marktplatz geheißen. Jetzt ertöenen Choral-
gesänge - der Kantor hat den Unterricht begonnen. Diese schöne
Sitte wirkt auf den Wanderer recht stimmungsvoll, auch wenn er
sie als alten Brauch kennt. Es liegt etwas Veredelndes in diesen
von Kinderstimmen gesungenen Kirchenliedern, die hier weit
hinausklingen in Feld und Heide.

Auch die alte Postkutsche ist hier noch zuhause, sie begegnet mir
zufällig im Dorfe, und ihr einziger Insasse ist ein Fräulein, das
erwartungsvoll nach dem Ziele ausschaut. Ein Ruf aus der Ver-
gangenheit.

Heidestädtchen haben ihren eigenen Reiz. Sie liegen in stiller
Abgeschiedenheit und harren gleichsam des erlösenden Ritters in
Gestalt moderner Verkehrsmittel und ertragreicher Industrie.
Beides hat Kotzenau. Es hat seine Bahnverbindung und eine
bedeutende Industrie. Daher kommt es, daß es, von weitem ge-
sehen, sich viel großartiger ausnimmt als es in Wirklichkeit mit
seinen 4000 Einwohnern sein kann. Da sieht man den nagel-
neuen Wasserturm, ferner die Hochöfen und Schornsteine der
Marienhütte, die einen gewaltigen Lebensfaktor des Ortes
bildet. Diese besuchen wir zuerst. Ordnungsmäßig ringsum alles -
Häuser, Mauern, Wege. Gerade hat die Glocke die Frühstückszeit
geschlagen, und lange Reihen Arbeiter verlassen das Tor, um in
dem Städtchen den wohlverdienten Imbiß einzunehmen. Jeder
hat der Kontrolle halber vorher seine Arbeitsnummer an einer der
drei schwarzen und numerierten Tafel im Portal anhängen müssen.
Weit über 700 Nummern zählen wir: eine stattliche Anzahl. Schlägt
man dazu noch das andere Personal, so kommen über 1000 Per-
sonen heraus, die samt und sonders ihr Brot der Eisenindustrie
verdanken, die hier ihre Herrschaft aufgetan hat. Das aus
Oberschlesien und England hergeholte Eisen wird zu jeglichen
Gegenständen verarbeitet, die man sich aus diesem Erz denken kann.

Große Ladungen Eisenwaren, Eisentöpfe usw. gehen jetzt z. B. nach
Afrika, unseren Kolonien. So reichen sich in der Heide Heimat
und Ferne die Hand! Der Gesamtumsatz der 1871* begründeten
Marienhütte, zu welcher auch das Eisenhüttenwerk Mallmitz ge-
hört, betrug im letzten Jahre über 5 Millionen Mark. Unterrichtet
man sich über die Wohlfahrtseinrichtungen für das Arbeiter-
Personal, so gewinnt man Vertrauen zur Zukunft. Denn was
darin dem Arbeiter geboten wird, muß doch schließlich heilsam auf
das ganze Geschlecht wirken. Man muß aber auch sagen, daß damit
die Grenze des Möglichen erreicht ist. Da gibt es eine Arbeiter-
Sparkasse, die Wochen-Einlagen von 10 Pf. an gestattet; ein
Ältesten-Kollegium zur Beilegung von Reibereien unter den Ar-
beitern; ein Warenhaus, das gute Waren billig liefert; ferner sind
eine große Anzahl Arbeiterwohnhäuser entstanden, so wurden im
letzten Jahre allein 140.000 Mark für die Vergrößerung dieser
Kolonie verausgabt. Am 1. April 1908 bezogen 26 Familien vier
neue Wohnhäuser, und zwei weitere waren im Bau und sollten im
Herbst fertig werden. Besonders angenehm hat mich die bedeutend
vergrößerte Arbeiter-Badeanstalt berührt - mit dem körperlichen
Bad nimmt doch auch der Sinn teil an Erfrischung und Reinlich-
keit! Für die geistigen Bedürfnisse wird von der Leitung nahezu
erschöpfend gesorgt. So gibt es nicht nur eine Fortbildungsschule
und eine Handfertigkeitsschule, sondern auch eine Kleinkinderschule,
eine Sonntagsschule, eine Bibliothek, und für die Geselligkeit ein
Vereinshaus, eine Hüttenkapelle, einen Gesangsverein u. a. m. Daß
auch ein eigenes Krankenhaus vorhanden ist, erscheint nachdem
selbstverständlich.

Wie geborgen und gesichert muß sich der Arbeiter im Verbande
dieses gewaltigen Unternehmes vorkommen! Es wirkt unbedingt
erziehlich auf den Menschen, wenn er tagtäglich die Überzeugung
gewinnen muß, daß über den täglichen Lohn hinaus eine frei-
willig Sorge Veranstaltungen aller Art für alle Lebensfälle bereit
und offen hält! Das ist ein Akt sozialer Tätigkeit, der Aner-
kennung verdient. In den Statuten hat mir manches gut ge-

* falsche Jahreszahl, siehe Geschichte der Marienhütte
fallen, was sich ohne Schwertstreich auch andernorts durchführen läßt.
Besonders aber zweierlei Bestimmungen: 1. Lohn wird nicht
Sonnabends, sondern am Freitag ausgezahlt; verboten ist, vom
Lohntisch noch ins Wirtshaus zu gehen. 2. Lehrlingen ist der
Besuch von Gasthäusern und Tanzlokalen nur bis 9 Uhr abends
gestattet; um 10 Uhr müssen sie im Quartier sein.

So ist die Marienhütte eine Quelle des Wohlstandes materieller
und sittlicher Art für Kotzenau, das sich bestrebt, nach außen und
innen Fortschritte zu machen. Wasserleitung ist da, elektrisches Licht
winkt, und nicht ohne Stolz kann man auf die neueste Errungen-
schaft blicken, ohne die keine bessere Stadt jetzt sein kann: auf das
Licht-Luft-Bad - sogar mit Wasser!

Der Ring ist in seiner ungepflasterten Mitte entschieden an-
genehmer als am harten Rande mit den altmodischen Katzenköpfen.
Das niedliche Rathaus aus dem 18. Jahrhundert gibt uns eine
ernste Mahnung auf den Weg: "Meine Zeit ruht in Deinen Händen" - so lautet seine Inschrift.

Wir werfen dem turmgekrönten, in Rosa leuchtenden Schloß
(Graf Dohna) noch einen Blick zu und eilen wieder hinaus in die
Heide. Auf der Straße von Kotzenau nach Primkenau leuchtet
der mehlweiße Sand. Rechts und links begleitet trockenes Kiefer-
gehölz die Wege. Daraus schimmert dasselbe Weiß hervor und
verrät den wahren Charakter der Heide; auf dem feinen Sande, der
Eiszeit entstammend, da Wasser und Gletscher den jetzt so trockenen
und heißen Boden bedeckten, hält nur Stein und Pflanzenwuchs
die Erdrinde zusammen; wo diese nicht sind, zerfließt der Boden
in mehlige, weiche, breite Masse. Oft genug bricht mit dem vom
Sturme umgerissenen Stamme der kleine Sandhügel auseinander
und zeigt sein Innerstes wie einen Schrund am Körper.

Die Felder bieten nur wenig Abwechslung, Roggen und Kar-
toffeln, selten etwas Hafer lohnt des Landmanns Mühe. Auch die
Lupine zeigt den trockenen, dürftigen Boden an. Sengend heiß
liegt die Sonne auf den stillen Fluren. Reh und Hirsch, Hase und
Huhn haben sich in die schattigen Stellen des Forstes oder ins Ge-
büsch zurückgezogen. Telegraphenstangen verhindern, daß man sich
allzu vereinsamt fühlt. Dann kommt ein Heidedorf nach dem andern,
aber im Aussehen eins wie das andere; erst das kleine Persel,
dann Jakobsdorf, dann Wengeln und Weißig und end-
lich Wolfersdorf. Wenn ich diese Dörfer schildern soll, muß
ich die wirkliche Einsamkeit schildern. Ihre Häuschen und Hütten
sind nur zum kleinen Teil neuere Wohnhäuser. Die meisten deckt
Stroh, viele sind, wie vor 2000 Jahren die Germanenhütten, aus
Lehm und Holz erbaut. Der Kätner arbeitet schweißtriefend auf
dem Kartoffelacker, die Kätnerin pflegt den kleinen Gemüsegarten,
der nur widerwillig das Kraut hervorbringt. Die Buben schauen
dem arbeitsreichen Spiel des Bienenfluges zu, denn Vater hat
neulich erst drei neue Bienenwohnungen gekauft, die, hübsch bunt,
den Garten zieren. Solche Bienenwohnungen werden in Persel,
Wengeln und Weißig im großen hergestellt. Gleich hinter dem
Hause steigt ein Sandhügel an, der zur Hälfte noch Kieferngestänge
trägt, zur Hälfte aber schon angenagt ist und seinen weißen Inhalt
langsam in Kätners Gärtchen schüttet.

Wo lehmige Unterlage den Abfluß des Regenwassers verlang-
samt, kommt etwas Abwechslung in die Landschaft. So erfreut sich
das Auge an dem Wiesengelände zwischen Wengeln und Weißig,
ein feiner Duft von Heu strömt Mensch und Vieh wohltuend zu.
Die Heuernte ist hier ebenso wertvoll wie die Kornernte. Sie gibt
gesundes Vieh. Sonst ist es für die Heide charakteristisch, die Berge
von Waldstreu im Hofe aufgestapelt zu sehen.

Zwei Heidefreunde aus dem nimmer sich erschöpfenden Schatze
der Natur habe ich auf dem Wege nach Primkenau oft gegrüßt. Der
eine heißt Specht und ist ein gar lustiger Geselle, der die Einsam-
keit mit seinem eifrigen Baumdienst etwas belebt; der andere ist
das Weideröschen, ein freundlicher Gruß aus dem Werke der
Schöpfung; überall, wo der Boden etwas feucht ist, da wimpelt es
brennrot mit zierlichen Blüten in die Heideluft...