Abitur-Jahrgang 1930
Türkische Schüler am Gymnasium Lüben














Abitur-Jahrgang 1930 im Riesengebirge mit Studienassessor Wachs im Jahr 1928

Abitur-Jahrgang 1930 mit Studienassessor Paul Wachs im September 1928

Die Aufnahme entstand am 15.9.1928 bei einem Ausfluges der Unterprima des Realgymnasiums Lüben ins Riesengebirge.
Sitzend auf der Brückenmauer (von links): Kurt Prägler (mit der Schülermütze der Unterprima Lüben), Gerhard Ziebro, Kurt Sommer (genannt Kuli), Werner Geu, Harald Schlichting, Erhard Scholz (Scholli), Friedrich Schote (Winzig), Friedrich Gerlach (Bunzlau), Herbert Rothe (Mallmitz), Kurt Kirchner; vordere Reihe: Gerhard Eichler, Gerhard Franz (Schievelbein), Studienassessor Wachs, Friedrich Wilhelm Schmidt (*1908), Hans Schigold , Karl-Heinz Timm (etwas verdeckt), Herbert Basista (Ziegenhals), Günther Schröther, Gerhard Otto (Liegnitz), Robert Treutler (*1912), Erich Schieleit

Auf dem Foto fehlen aus der Klasse: der Fotograf Hans-Christoph Pohl (Schweidnitz), Leopold Beyl (Raudten), Ernst von Heyking (Kuchelberg), Georg Klingberg, Joachim Leider, Heinz Ortmann, Joachim von Vangerow (Liegnitz). Diese Schüler waren mit Studienrat Erwin Vetter einen anderen Weg gegangen. Irmgard Treutler hatte an diesem Ausflug nicht teilgenommen.

Abitur-Jahrgang 1930 mit Klassenlehrer Dr. Treblin im März 1929

Abitur-Jahrgang 1930 mit Klassenlehrer Dr. Martin Treblin im März 1929

Von links nach rechts (sitzend): Kurt Prägler, Erhard Scholz
(stehend): Herbert Basista (Ziegenhals; verdeckt), Gerhard Otto (Liegnitz), Friedrich Schote, Harald Schlichting, Gerhard Ziebro, Hans Schigold, Robert Treutler (*1912), Hans Christoph Pohl, Leopold Beyl (1909-1986), Kurt Sommer, Karl-Heinz Timm, Gerhard Franz, Saip Develi genannt Atatürk, Herbert Rothe, Kurt Kirchner, Günther Schröther (Altstadt, gef. 1945), Erich Schileit, Klassenlehrer Dr. Martin Treblin.


Das Abi 1930

war ebenfalls keine Zuckerlecke. Auch damals gab es überbelegte Klassen, Lehrermangel, Reformen, die Lehrer und Schüler fast jedes Jahr aufs neue beunruhigten, ständigen Kauf von immer wieder neu eingeführten teuren Schulbüchern, die jeder Schüler selbst bezahlen mußte u. a. m. Wir standen auch unter Leistungsdruck und Stress oder wie die heutigen Kauderwelschworte noch heißen mögen. Sie waren uns jedoch unbekannt oder wurden nicht hochgespielt, um das Verhalten der Schüler negativ manipulieren zu können. Wir hielten es für selbstverständlich, daß wir gefordert wurden und Leistungen nachweisen mußten. Wer allerdings überwiegend einseitig begabt war, z. B. in Sprachen oder naturwissenschaftlichen Fächern, konnte nicht in einen seiner Begabung entsprechenden Zweig ausweichen. Er mußte versuchen, sich durchzuschmuggeln, oder scheitern. Dasselbe mußte der tun, auf den ein Lehrer eine Picke hatte. Am geachtetsten waren die Lehrer, die Kenntnisse verlangten, nicht Spielerei. Später vergaß mancher seinen Zorn auf die Schinderei, weil er merkte, daß ein gediegenes Allgemeinwissen von großem Vorteil ist.

Wenn meine Erinnerung nicht trügt, waren wir fünfundzwanzig Abiturienten - also eine überaus starke Abschlußklasse -, die zur Reifeprüfung Ende März 1930 zugelassen waren und bestanden, drei konnten sie jedoch aus gesundheitlichen Gründen erst später nachholen. Dies waren Gerhard Franz, der vor Weihnachten beim Ausschmücken des Löwen-Saales zu einer Schulfeier von der Leiter stürzte und das Handgelenk brach, Friedrich Gerlach, der lange krank war und Erhard Scholz (Scholly), der zwei Tage vor der Mündlichen einen lebensgefährlichen Mandelexzess bekam.

Jahrelang bemühte ich mich, von den noch lebenden Klassenkameraden Näheres über unser Abi zu erfahren, damit dieser Bericht nicht nur auf den verblaßten Erinnerungen meines "Spatzengehirns mit dem Regenwurmgedächtnis", wie Zassel (Dr. Krusche) zu spotten pflegte, beruhe. Leider war die Ausbeute sehr gering. Einige Unrichtigkeiten konnte ich beseitigen, mehr nicht. Dank gebührt aber jedem, der mir antwortete. Jeden Leser bitte ich, mir Fehler oder Ungenauigkeiten zu verzeihen, insbesonders die Personalien betreffend.

Soweit erinnerlich bestanden die Reifeprüfung 1930:

Herbert Basista, Jurist,
Leopold Beyl, Angestellter,
Lieselotte Behnisch, Lehrerin,
Gerhard Eichler, Zahnarzt,
Gerhard Franz, Zahnarzt,
Friedrich Gerlach, Dr. med., Medizinal-Direktor,
Werner Geu, Breslau, Tierarzt, gefallen;
Ernst v. Heyking, Kuchelberg b. Lüben, gefallen auf Kreta;
Joachim Leider,
Hans Christoph Fohl,
Kurt Prägler, Arzt;
Herbert Rothe, Zahnarzt,
Hans Schigold, Dr. med., Chefarzt,
Harald Schlichting, Wohlau, Tierarzt,
Friedrich Wilhelm Schmidt, Dr. med. vet.,
Erhard Scholz (Scholly), Apotheker,
Günther Schröther, Lehrer, gefallen;
Kurt Sommer, Oberstudienrat,
Karl Heinz Timm,
Irmgard Treutler verw. Stock,
Robert Treutler, Superintendent,
Joachim Urbach, Bankabteilungsdirektor,
Joachim von Vangerow,
Gerhard Ziebro, Apotheker.


Hierbei darf nicht der Türke Saip Develi unerwähnt bleiben. Er hatte zwar sein Abi bereits in der Heimat bestanden, gehörte aber unserer Klasse ein Jahr an, um Deutsch zu lernen und am Unterricht teilzunehmen. Studienrat Dr. Weisker brachte ihm in kurzer Zeit ein einwandfreies Deutsch bei. Nach unserem Abitur studierte er an der TH Berlin und kehrte als Diplom-Ingenieur in seine Heimat zurück. Kemal Pascha, General und erster Präsident der Türkischen Republik, von seinen Landsleuten stolz Atatürk - Vater der Türken genannt -, schuf aus der orientalischen Türkei einen modernen Staat westlicher Prägung. Um bald zum Ziel zu gelangen, schickte er ins damalige Deutsche Reich tausend Studenten der Ingenieurwissenschaften und der Medizin. Nach Frankreich sandte er die künftigen Lehrer, nach Italien und England die Wirtschaftsfachleute. Auf meine Frage, weshalb Atatürk nur Ärzte und Ingenieure in Deutschland ausbilden läßt, antwortete Saip: Ihr seid dumm. Er meinte nicht Dummheit in unserem Sinne, sondern daß wir nicht genug geschäftstüchtig und gerissen seien. Als gläubiger Moslem aß er kein Schweinefleisch und -fett und trank keinen Alkohol. Seine Wirtin, die Witwe eines Arztes, die später unseren eingefleischten Junggesellen Zassel (Dr. Krusche) heiratete, berücksichtigte seine Eßgewohnheiten. Einen Gebetsteppich hatte er sich auch mitgebracht. Täglich verrichtete er auf ihm die vom Koran vorgeschriebenen Gebetsübungen. Er legte den Teppich nach Südosten, weil in dieser Richtung Mekka lag.

Nun zu unserer Reifeprüfung vor fünfzig Jahren. Es begann damals mit den Vorzensuren. Waren die mündlichen und schriftlichen Durchschnittsnoten des Jahres in den einzelnen Fächern glatt und änderten die Noten der schriftlichen Prüfungsarbeiten nichts daran, wurde der Betreffende nur in seinem Wahlfach geprüft, also einem Fach, in dem sich der Prüfling sicher fühlte. Das Nervenaufreibende war, daß die Zensuren der schriftlichen Prüfungsarbeiten nicht bekanntgegeben werden durften. Wer nicht genau wußte, ob er die Arbeiten der Vorzensur entsprechend geschrieben hatte, mußte damit rechnen, in diesen Fächern auch mündlich seine Kenntnisse oder Nichtkenntnisse nachzuweisen. Um glatte Vorzensuren zu erlangen, mußte derjenige, der wegen nicht gleichbleibender Kenntnisse oder aus anderen Gründen mit einem Lehrer auf Kriegsfuß stand, mit List und Tücke versuchen, zu einer glatten Note zu kommen. Manchmal half das auch nichts. Dr. Weisker z. B. gab diesen seinen "Freunden" einen schwierigen Text zu übersetzen und blieb neben ihnen stehen. Friedrich Wilhelm Schmidt löste dieses Problem um der Nervenschonung willen zu seinen Ungunsten. Er sagte kaltschnäuzig: "Lassen Sie den Text von Frl. Behnisch - seiner Banknachbarin - übersetzen. Die ist ja besser als ich."

An den Vormittagen einer Februarwoche wurden in einem großen Unterrichtsraum die Klausuren in Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch geschrieben. Die Bänke, auf denen nur je ein Prüfling sitzen durfte, standen rechts und links des Zimmers, die Mitte war frei, damit zur Nachbarbank keine Fühlung aufgenommen werden konnte. Schreibpapier erhielt jeder vom Lehrer ausgehändigt. Eigene Bücher, Hefte oder eigenes Papier waren verboten. Für die englische und französische Arbeit erhielt jeder zur Hilfe ein großes Lexikon. Die Klausurarbeiten mußten in einer festgesetzten Frist geschrieben und pünktlich dem aufsichthabenden Lehrer abgegeben werden. Andernfalls wurden sie ungenügend bewertet. Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir für den deutschen Aufsatz sechs Stunden (Kurzstunden zu 45 Min.) und für die anderen Klausurarbeiten vier oder fünf Stunden zur Verfügung.

Zum Beginn öffnete der Direktor in Gegenwart eines Lehrers einen versiegelten Umschlag, in dem das oder die Themen enthalten waren. (Die Schule mußte mehrere Themen an die oberste Schulbehörde in Breslau einreichen, die dann über die zu prüfenden Aufgaben entschied, so daß vorher unbekannt war, welche Themen zur Prüfung anstanden.) Die Lehrer, die ja nicht wollten, daß wir durchfielen, hatten zuvor einigen Lehrstoff besonders gründlich durchgenommen. An uns lag es, richtig zu schalten. Der Chef, Direktor Tscharntke, warnte uns zwar dringlich vor dem "Tippen", weil wir Schiffbruch erleiden würden. Trotzdem lohnte es sich. In Deutsch z. B. standen zwei Themen zur Auswahl, ein geschichtliches und "Die Bedeutung der Auslandsdeutschen für das Mutterland". Das letztere hatten wir so ungefähr getippt und schrieben darüber mit Erfolg. Nur Robert Treutler nahm das Geschichtsthema. In Mathematik gab es ein Desaster, weil nur fünf richtig geschaltet hatten. Kurz zuvor hatten wir sehr schwer zu lösende Aufgaben durchgenommen. Die meisten rechneten nicht mit etwas Ähnlichem zur Prüfung. Fritz Schote und ich, die wir in der Pension von Muttel Zeutschner ein Zimmer bewohnten, hatten sie jedoch sehr geübt. Von drei von allen zu lösenden Aufgaben war auch so eine dabei. Ich sehe noch Zassel (Dr. Krusche) mit wütenden Äuglein hinter dem Kneifer von Bank zu Bank gehen und durch seine auf die Unterlippe gepreßten Zähne des Oberkiefers zasseln: "Die nächste Ersatzarbeit wird erst in einem Jahr geschrieben." In Englisch und Französisch war nichts mit dem Tippen. In Englisch schrieben wir eine Nacherzählung. In Französisch hatte es das Thema "Danton nach Romain Rolland" in sich. Wer etwas anderes über Danton schrieb, als Rolland gesagt hatte, hatte das Thema verfehlt und erhielt ungenügend.

Die Wochen zwischen dem Schriftlichen und Mündlichen waren mit Pauken, besinnlichen Pausen und den nervenbelastenden Grübeleien ausgefüllt, in welchem Fach man geprüft wird. Ende März 1930 wurden wir dann wegen der Stärke unserer Klasse an einem Donnerstag und Freitag geprüft. Ich war bei der ersten Hälfte und somit bald von der quälenden Ungewißheit befreit. Zu Beginn wurde uns gesagt, in welchen Fächern wir geprüft werden, dann mußten wir bis zum Aufruf warten. Als ich - für mich kaum faßbar-hörte, ich werde nur in meinem Wahlfach Geschichte geprüft, was gleichbedeutend war mit dem früheren "vom Mündlichen befreit", sauste ich gleich zur Post, um meiner Mutter fernmündlich zu sagen, daß ich bestanden habe.

Der Prüfungskommission gehörten an: Bürgermeister Hugo Feige als Vertreter der Stadt (das Realgymnasium, dessen letzte Klasse wir waren, weil es in ein Reformgymnasium und später in eine Oberschule umgewandelt wurde, war eine städtische Schule), Direktor Erich Tscharntke, die Studienräte Paul Fiedler, Dr. Albert Krusche, Heinrich Munderloh,
Dr. Martin Treblin, Erwin Vetter, Dr. Weisker, Oberschullehrer Gustav Zingel, akademischer Zeichenlehrer Friedrich Wilhelm Halfpaap, Studien-Assessor Wachs und last not least die frische, charmante Lehrerin Fräulein Zander, nach der Verheiratung als Frau Fricke in Ansbach lebend, die mitfühlend und aufmunternd uns armselige Würstchen betrachtete.

In den letzten Wochen waren wir noch öfter auf die besondere Bedeutung des Mündlichen hingewiesen worden. Der Chef sagte: "Meine Damen und Herren, das Mündliche ist keine Spielerei. Tippen Sie nicht. Sie müssen dort beweisen, was Sie können." Unser Klassenlehrer Vetter suchte uns zu beruhigen und meinte, von uns werde nichts verlangt, was nicht durchgenommen wurde. Den Nagel auf den Kopf traf Dr. Treblin mit der Bemerkung, es sei alles nur Theater. Die Prüfer hätten nur auf ihrem Gebiet Ahnung und müßten die Beurteilung des Fachlehrers beachten. Wir sollten nur zügig sprechen, aber aufpassen, welche Einwürfe der Fachlehrer mache, denn er will Brücken für den rechten Weg bauen.

Die Entlassungsfeier am Sonnabend war in dem damals üblichen Rahmen mit Festtagskleidung, feierlicher Stille, Schulchor, mahnenden Ansprachen u. a. m. Die Schülerrede hielt unser jüngster, längster und bester Schüler Robert Treutler. Das Wichtigste für uns war die Aushändigung der Reifezeugnisse.

Wenn wir auch nicht soviel Geld wie die heutigen Schüler von den Eltern bekamen, feierten wir doch sehr gründlich. Ich konnte alte Schulbücher vorteilhaft verkaufen, weil ich Übersetzungen und Lösungen der Aufgaben hineingekritzelt hatte. Das erhöhte meinen Feiersold.

Am Nachmittag tagte eine Clique von uns im Hinterstübchen vom Kaufmann Brauner - jetzt waren wir ja keine Schüler mehr und durften alle Lokale, nicht nur die Konditoreien Neumann und Hilbig besuchen. Hier kam unser Unikum Herbert Basista auf den gigantischen Gedanken, mit einem Faß Bier auf einem Rollwagen durch die Straßen Lübens zu fahren und von dort oben den lieben Lübenern aus vollen Gläsern zuzuprosten. Uns zur Freude, den arbeitsamen Lübenern zum Ärger rollten wir mit Hallo die Hauptstraßen entlang. (Störende Autos gab es damals kaum.) Am Abend bei der Abschlußfeier im "Grünen Baum" mit den Lehrern ging es gelöst und fröhlich zu. Ein Frühschoppen am Sonntagmorgen im "Baum" beendete unser feuchtfröhliches Treiben. Vor lauter Übermut marschierten wir noch zwischendurch mit einem gefüllten Bierglas in der Hand im Gänsemarsch lautlos und feierlich um das Rathaus mit einem Bein auf dem Bürgersteig (Trottoir), mit dem anderen in dem Rinnstein. Als wir das Glas dann in einem Zuge auf das Wohl Lübens leerten, traf uns manch vorwurfsvoller Blick der heimkehrenden Kirchgänger.

Befreit von der Prüfungsangst, hoffnungsfroh und voller Tatendrang sagten wir bald Lüben und der Penne ade.

Leo Beyl, 1980



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