Elizabeth May (1885-1972)
Dr. med. Friedrich Meyer und Familie














Elizabeth May (1885-1972)

Else May, am 21. Dezember 1885 in Lüben geboren, war die Tochter des Buchhändlers May am Ring in Lüben. Um die Jahrhundertwende verließ sie mit ihren Eltern Schlesien und zog in den Harz. Um 1920 emigrierte sie in die USA. Sie nannte sich fortan Elizabeth May. Sie verstarb Anfang der siebziger Jahre in Denver, Colorado USA.
Ihre Kindheitserinnerungen geben eine lebendige Vorstellung vom Leben in der Kleinstadt Lüben um 1890. Ihre Freundin, die Weber-Lene, des Nachbarn Tochter, die zuletzt als Helene Beversdorff in einem Altenheim in Trier lebte, hat das Manuskript von Else May nach deren Tod zur Veröffentlichung im Lübener Heimatblatt freigegeben.


Lüben vor der Jahrhundertwende - Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit

1. Der kleine Buchladen an der Ecke

"Kommt rauf, Kinder! 's ist ein Uhr, Zeit zum Mittagessen. Kommt ja nicht zu spät!"

Mutter wußte Bescheid. Eine Minute Verspätung bedeutete bei Vater keinen Nachtisch für Walter, Konrad, Lelli und Else . Daher lieber das Spiel versäumen als den Nachtisch. Hierin waren sich alle vier Kinder1 einig.
Eine Witwe mit einem kleinen Mädchen, Lelli, hatte einen Witwer mit zwei Knaben, Walter und Konrad, geheiratet. Ich bildete die Brücke. Drei verschiedene Familien. Mit Vaters Gesundheit stand es nicht zum allerbesten. So hatte er auch nicht der Familientradition folgen und Offizier werden können. Aber er konnte sich ganz seinen geliebten Büchern widmen. In einem kleinen Laden in Lüben, an einer Ecke des Rings, dem so typischen schlesischen Marktplatz, fand sich eine höchst illustre Kundschaft zusammen. Schulkinder kamen nach Lesebüchern, Schiefertafeln, Griffeln, Schwämmen, Stahlschreibfedern und Butterbrotpapier.

Die Buchhandlung May um 1890

Ganz links: Die Buchhandlung der Familie May. Das Haus der Familie Weber neben der Apotheke wurde 1906 abgerissen, um die Bahnhofstraße zu verbreitern. Im Haus der Mays wurde später Kaiser's Kaffeegeschäft eingerichtet. Siehe auch Apothekenseite.

Eine Marktfrau kaufte sich auf dem Nachhauseweg ein Traumbuch. Sie bemerkte nicht den neben ihr stehenden Offizier in seiner himmelblauen Uniform mit den gelben Schulterstücken. Offizier in Uniform und Bäuerin mit buntem Kopftuch gaben unserem kleinen Buchladen beinahe ein festliches Aussehen. Ganz richtig, unsere kleine Stadt in der niederschlesischen Heide hatte Soldaten, ein ganzes Dragonerregiment. Oft kam aber auch ein Nachbar vorbei, um sich ein neues Buch aus Vaters Leihbibliothek zu holen. Mit dem Buch in der Hand ließ er sich gleich auf dem alten Holzstuhl nieder und begann seine Lektüre noch im Laden.

Vielbeschäftigt, hatte Vater so nur wenig Zeit, um neue Bücher selbst zu lesen. Hier mußte Mutter mit ihrem guten Urteil in literarischen Dingen oft einspringen. Wochentags hatten wir Kinder keinen Platz in Vaters Reich. Alles was wir tun konnten war, gelegentlich mal hineinzugucken, um zu sehen, was da so alles vor sich ging. Wir hofften dafür um so mehr auf einen stillen Sonntag, bis Vater ein "-chen" an einen unserer Namen hing. Ich wußte genau, daß mich Vater, nannte er mich Elschen, an den Goldschiener-Kasten ließ: Eine flache Holzkiste aus der Zeit seines Vorgängers Goldschiener.

Wir hatten keine Ahnung, wie Herr Goldschiener ausgesehen haben mochte. Ich stellte ihn mir aber mit langem, weißem Bart vor, mit einer goldenen Brille, die viel größer als die von Vater und Mutter war. Und so sah ich ihn hinter dem Ladentisch stehen und Kostbarkeiten aus der Holzkiste, dem Goldschiener-Kasten, verkaufen. Vielleicht trug er auch eine kleine Mütze mit wunderschöner Stickerei. Und an solch seltenen Sonntagen standen wir vor dem offenen Kasten, staunten und trauten uns kaum, die herrlichen Kotillon orden zu berühren, glitzernde goldene und silberne Papiersterne, Hüte aus Seidenpapier in allen Regenbögenfarben und die schönen Rosen und Mohnblumen auf Draht. Die Jahre vergingen. Der Goldschiener-Kasten blieb. Mit ebenso leisen wie geheimnisvollen Stimmen wurde er besprochen - und verlor mit all seiner Pracht allmählich an Gewicht.


2. Wöchentlicher Badetag

"Elschen, heute ist dein Badetag!" Es war also einmal wieder Freitagabend gekommen. Mutter hatte ein richtiges Programm ausgearbeitet für das wöchentliche Bad in der Waschküche im Keller. Da das Wasser für die Zinkbadewanne schon Stunden zuvor im riesigen Kupferkessel auf dem Ziegelofen heiß gemacht werden mußte, konnte täglich immer nur ein Familienmitglied ein Bad nehmen - ausgenommen montags. Da badete Mutter am Vormittag, während Vater erst spätabends kurz vor dem Schlafengehen in die dampfenden Fluten stieg. Mir, als der Jüngsten, hatte Mutter den Freitag zugewiesen, damit sie auch sicher sein konnte, mich am Sonnabend, dem "Trosttag aller schmutzigen Leute", sauber zu haben. Das war ihr besonderer Stolz.

Ich hatte schon immer die Jungen und Mädchen aus der Volksschule barfuß laufen und spielen sehen. Sogar zur Schule durften (oder mußten?) sie ohne Schuhe und Strümpfe gehen, was uns braven Bürgerkindern streng untersagt war. Wenn ich doch bloß mal ausprobieren könnte, wie sich so ein kleiner Spaziergang anfühlte! Ich wagte nicht, gegenüber irgend jemandem etwas von meinem Wunsch zu erwähnen, weil ich doch wußte, daß ein anständiges (!) Kind so etwas nicht tat. Die ganze Zeit hatte ich mir schon überlegt, wie die Mütter dieser Kinder wohl all die kleinen Steine am Abend aus den Fußsohlen ihrer Sprößlinge entfernten. Aber die Kinder schienen quietschvergnügt, während sie auf dem Gehweg und auf der gepflasterten Straße spielten. Ihre Füße wurden jedesmal dabei so schwarz wie meine Schuhe.

Doch eines Morgens hielt ich es schließlich nicht mehr aus. Draußen war es sommerlich heiß. Und so entschied ich mich für meinen ersten Barfußgang. Als ich so gegen zwölf Uhr die Tür zum stockdunklen Kohlenkeller öffnete, wußte ich: Etwas Furchtbares zu tun, stand ich im Begriff! Es gab keinen Platz zum Hinsetzen, und so mußte ich mich an die Wand lehnen, um mir Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Obgleich es so kalt wie in unserem Lebensmittelkeller war, fühlte ich doch große Schweißtropfen auf meiner Stirn. Ich tastete mich die Wand entlang. Die Füße schmerzten. Nur nicht nachgeben! Da hörte ich deutlich die Stimme meiner Mutter vom Küchenfenster: "Elschen, Zeit zum Mittagbrot!" Keine Antwort. Wieder ertönte der Ruf, diesmal mit einem angstvollen Unterton. Ich wußte, man würde mich tüchtig ausschelten, doch meine Stimme muß wohl recht schwach geklungen haben. "Schnell, schnell! Mach schnell!" hörte ich Mutter erneut rufen. Ihre Stimme klang schon etwas ermutigender. Da ich jedoch meine Schuhe und Strümpfe nicht finden konnte, mußte ich den Dingen, die da sicherlich auf mich zukamen, mutig ins Auge blicken. Es waren genau die noch üblichen fünf Minuten zum Händewaschen, aber ich bin sicher, daß Mutter wohl nie hektischere fünf Minuten erlebte. Sie schüttelte sich vor Lachen, während sie zwei zitternde kleine Füße, zwei Hände und Arme und ein Gesicht so schwarz wie die Nacht schrubbte. Am Mittagstisch wunderten sich alle über Elschens Röte im Gesicht. Ob sie gar Fieber hatte? Und so mußte Mutter schließlich beichten. Jeder, selbst Vater; schien sich darüber zu freuen, daß ich als anständiges Kind meinen ersten Barfußlauf nicht gerade vor unserem Laden am Ring unternommen hatte. Doch bedeutete dieser unerlaubte Ausflug eine Änderung in Mutters Badeprogramm.


3. Sonntagsvergnügen

Am Sonntagmorgen hätten wir Kinder ja viel lieber geschlafen, wenn da nicht die kleinen runden Streuselkuchen gewesen wären. Ein Geschenk von Bäcker Kirchner für die Kinder von solch guten Brot- und Semmelkunden, wie es unsere Eltern waren. Diese kleinen Kuchen ließen uns keine Ruhe. Walter, Konrad, Lelli und ich hatten bereits beachtliches Training, frühzeitig aufzuwachen, um "bloß mal nachzusehen". Einzeln schlichen wir uns ins Eßzimmer. Da stand er, der berühmte Kuchenteller. Jetzt galt es, rasch die größten Streusel zu entdecken und einen herzhaften Biß von dem herrlichen Kuchen zu stiebitzen. Dann rührte ihn keiner mehr an. Lelli schien dabei immer die flinkeste zu sein, obwohl ich Süßigkeiten noch viel mehr liebte als sie.

Kurz vor dem offiziellen Frühstück ging Vater an die Auszahlung unseres wöchentlichen Taschengeldes: zehn Pfennig für die Brüder, die ja älter waren als Lelli, fünf Pfennig für Lelli und zwei Pfennig für mich, die Jüngste. Von den älteren Brüdern erwartete Vater eine gewissenhafte Buchführung über den Verbleib des Geldes, wenn er auch niemals die Bücher zu sehen verlangte. Er wußte wohl, daß Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke am stärksten unter den Ausgaben figurierten.

Nach dem Frühstück gingen wir alle in die Kirche. Immer saßen wir auf den gleichen Plätzen, und jedesmal kam für mich der erschreckende Augenblick des Klingelbeutels. Wenn der Mann mit der langen Stange doch erst wieder vorbei wäre und ich meinen Pfennig nur nicht wieder oben ins Schlüsselloch steckte! Dann war endlich Ruhe. Im Halbdunkel der alten Lübener Kirche herrschte feierliche Stimmung. Oben auf der Kanzel stand der ehrwürdige Pastor Schoen im schwarzen

In der Evangelischen Kirche zu Lüben

Talar mit den weißen Beffchen und verkündete mit majestätisch wirkender Stimme das Evangelium. Von der Predigt selbst verstand ich damals noch nichts. Nur der Name Jesus entging mir nicht, wußte ich doch, wie sehr er die Kinder liebte. Hier waren wir in seinem Haus. Wieder erfüllte die Orgel mit einem schönen Schlußchoral das Gotteshaus. Schweigend verließ die Gemeinde durch den Mittelgang die Kirche, die Kinder an der Hand der Eltern.

Draußen angekommen, gab's nicht nur eine kurze Begrüßung mit Freunden, sondern auch die höchst prosaische Frage: "Was mag's wohl heute zum Mittagessen geben?" Man schnupperte förmlich den Braten. Vielleicht gab es sogar Schokoladensuppe mit Schaumklößchen obendrauf? Und dann womöglich Zitronenkrem zum Nachtisch! Mutters Stolz waren ja immer ihre Soßen mit saurer Sahne. Jeden Sonntag hofften wir darauf.

Nach dem Mittagessen zog man sich zurück. "Nur ein Viertelstündchen", so stand es auf Mutters gesticktem Kissen, wurde zur Regel. Dann aber endlich der Aufbruch zum sonntäglichen Spaziergang. "Warum gehen wir nicht mal wieder zum Kavalierberg?" Das hörten wir beinahe jeden Sonntag. Vater liebte es, stets ein Ziel zu haben. Lelli war dann meist die erste am Bestimmungsort, ich hingegen die letzte, mit einem großen Blumenstrauß in der Hand. Die Beeren unterwegs lohnten sich im übrigen auch. Und fand sich unter den Chausseebäumen mal ein Apfel oder eine Birne, so gab es auch bestimmt einen Esser. Die Jungen hatten obendrein noch ihren Spaß an allem, was da kreuchte und fleuchte.

Wir alle liebten unseren "Berg", den einzigen Hügel, soweit das Auge reichte. Es schien, als hätte Gott ihn bei der Erschaffung der Welt aus Versehen fallen lassen. Und dann schien er auch gleich noch die herrlichen Holztische unter den schattigen Bäumen für uns müde Wanderer aufgestellt zu haben. Nun aber sorgten Menschenhände in dem gemütlichen Gartenlokal für die nötige Erfrischung. Da gab es immer für Mutter und uns Kinder ein Glas frischer Milch, für Vater natürlich einen Schoppen Bier. Und dann das Ringspiel. Der silbern glänzende Ring an der langen grauen Schnur schien nur auf den Spieler zu warten, der ihn mit sicherem Wurf auf einen der Haken beförderte.

Mit Stolz hatte ich immer bemerkt, daß erwachsene Menschen zu meinem hochgewachsenen Vater aufblickten. Hier draußen auf dem Berge machte ich eine der beeindruckendsten Erfahrungen meiner Kindheit. Eines Tages setzte mich Vater auf seine Schultern und ließ mich hinunterschauen.

Anstaltskirche auf dem Kalvarienberg

Am Eingang zur Heil- und Pflegeanstalt befand sich auf einer kleinen
Anhöhe das schmucke Anstaltskirchlein. Es stand auf dem im Volksmund "Kavalierberg" genannten Kalvarienberg, der, bevor das Kirchlein erbaut
wurde, von den Lübenern gern aufgesucht wurde, um in der Baude bei Mutter Kühn den Sonntagnachmittag zu genießen.

Wie spaßig sahen doch die Leute von oben aus, wie konnte man endlich ihre Köpfe und das, was von ihrer Haarpracht noch übriggeblieben war, aus so imposanter Höhe betrachten! Und wie mochte sich wohl Vater täglich amüsieren, der so etwas Komisches immer ansehen konnte? Ich bewunderte von Stund an meinen Vater sehr.


4. Und dann wochentags ...

Die Wochentage vergingen natürlich bei uns Kindern nicht ganz so friedlich wie die Sonntage. Die Jungen in der Stadt hatten ihre Kämpfe in den Seitengassen, die auf den Ring mündeten. Lelli versuchte sich dabei oft als Schiedsrichter - mit mehr oder minder gutem Erfolg. Zur Abwechslung wurden aber auch die Schwestern geneckt - bis sie weinten. Um mich kümmerte sich keiner, ich war wohl noch zu klein. So schaute ich nur zu. Manchmal luden die Jungen die Mädchen zum Spielen ein, dies für gewöhnlich mit etwas rauhem Ende für die Mädchen. Die berühmte Schlange nach dem Muster der Turnriege spielte da eine wichtige Rolle. Man bildete eine lange Reihe, einer stand hinter dem anderen, die Hände auf den Schultern des Vordermannes. Der erste zog darauf die ganze Reihe vorwärts so schnell er konnte, und dann ging es hinein in komplizierte Kreise. Die Knaben versuchten dabei stets, den Kopf zu bilden, während die Mädchen die zweifelhafte Ehre hatten, den Schlangenschwanz zu wackeln. Das gleiche ereignete sich auf der Eisbahn.

Zum Glück für die Mädchen war Lelli mit ihren goldblonden Locken, ihren frischen roten Backen und den dunkelblauen Augen auch hier ein nützliches Zähmungselement. In ihrer Gegenwart konnten sich die Jungen sogar benehmen. Einige schwärmten für sie - natürlich nur aus der Entfernung und ganz zart. Höchstens mal ein zugestecktes Zettelchen, das von ihr errötend entgegengenommen wurde. Antwort von ihr gab es aber darauf nie. Es wurde im stillen genossen, gelegentlich auch mal zwischen besten Freundinnen besprochen. Als praktisch veranlagtes Mädchen schlug Lelli aber gelegentlich auch Kapital aus ihrer Rolle. Hatte sie für die Mädchen wieder einmal die Wogen geglättet, nahm sie gern eine der papierenen Modepuppen an, die man ihr schenkte, meistens eine mit einem bereits verliehenen sehr, sehr vornehmen Namen. So besaß Lelli eine ganz stattliche Sammlung dieser schlesischen Puppen-Hocharistokratie.

Zuweilen nahm mich Lelli sehr bewußt mit. Sie meinte zwar, ich sei noch viel zu jung zum Spielen mit den Älteren, es hätte aber keiner etwas dagegen, wenn ich ein bißchen Ball gegen die Wand spielte. Dabei wußte sie genau, daß ich mir nichts entgehen ließ. Es gab da so manche aufregende Szenen. Kaum konnten wir die Zeit erwarten, um unsere Erlebnisse beim Abendtisch zu erzählen. So oft ich aber den Anlauf machte, um endlich auch einmal zu erzählen, fuhr Lelli dazwischen: "Laß mich erzählen, ich bin die Ältere." Nur wenn die Sache amüsant war, durfte ich meinen Beitrag leisten. Sie lieferte die Aufregung und Spannung, ich den Spaß - und so kam am Ende keiner zu kurz.


5. Der Handkuß

Eines Tages kam ein Telegramm. Ich hatte zuvor noch nie dieses Wort gehört. Und die Meldung, die hinter jenem Telegramm sich verbarg, schuf beachtliche Unruhe: URGROSSMUTTER SCHWERKRANK STOP SOFORT KOMMEN

Das hieß, daß Urgroßmutter ihre Enkelin, also unsere Mutter, bei sich haben wollte. Und Mutter packte und packte in größter Hast und Eile. Da ich noch nicht zur Schule ging, durfte ich Mutter begleiten. Meine erste Reise: zur Urgroßmutter nach Rakwitz im Posenschen. Damals hatte diese kleine Stadt östlich von Wollstein noch keinen Anschluß an das preußische Eisenbahnnetz. Daher würde der letzte Teil der Strecke im Kutschwagen zurückgelegt werden.

Rakwitz/Posen um 1900

Rakwitz/Posen um 1900

Unser Reisetag hatte allerhand Interessantes gebracht, besonders die vielen Telegrafenstangen, die uns tanzend während der ganzen Fahrt begleiteten, eine spaßige Reise zur armen, kranken Urgroßmutter. Beim Umsteigen aßen wir im Bahnhofsrestaurant zu Mittag. Ein richtiger Kellner in feierlichem schwarzem Anzug mit einer kleinen schwarzen Krawattenschleife vor seinem schneeweißen Stehkragen servierte uns das Essen.

In stockdunkler Nacht kamen wir in Schmiegel, dem Endpunkt unserer Bahnfahrt an. Der Kutschwagen wartete schon vor dem Bahnhof. Nun ging's noch einmal richtig los: Mutter und ich saßen gut vermummt unter einer großen schwarzen Lederdecke, der Kutscher hoch oben auf seinem Bock. Er sprach kein Wort. Feiner Regen umsprühte meine Augen und Nase, das einzige, was von mir unter der Lederdecke hervorlugte. Mutter brachte wohl wenigstens noch ihr ganzes Gesicht an die frische Luft. Die Reise schien eine Ewigkeit zu dauern, nichts zu sehen. Die Kutsche schaukelte und schaukelte und schaukelte - bis ich am nächsten Morgen in fremdem Bett bei Urgroßmutter Reissert in Rakwitz aufwachte. Ich hatte die Ankunft verschlafen.

Wunderbarer Sonnenschein. Oder waren es nur die hellen Mahagonimöbel mit den heiteren Kreisen und zittrigen Linien im Holz? Ach, und die lustige Uhr mit den goldenen Säulen unter einer Glocke, die aussah wie ein großes Glasei! Konnte es in einem solchen sonnigen Heim eine kranke Urgroßmutter geben? Ich glaubte es nicht so recht. "Und merk dir, wenn du reinkommst, gib Urgroßmutter einen schönen Handkuß. Und sei still, bis sie dich etwas fragt!" So hatte es mir Mutter eingeschärft. Mit anderen Worten, Urgroßmutter würde den "Großmutter-Handkuß" bekommen, den wir daheim so oft geübt hatten, falls ... Und nun war dieses Falls gekommen. Ein Handkuß war gar nicht einfach. Er mußte ganz geräuschlos sein, so hatte man mir gesagt, und das war gerade der schwierigste Teil. Es war auch nicht eben einfach, die Nase in der richtigen Entfernung zu halten.

Der Augenblick war da. Unter einem großen Dach über ihrem Bett, zwischen hohen Kissen und einer dick wattierten Decke liegend, streckte Urgroßmutter mir ihre lange weiße Hand zur Begrüßung entgegen, um den Handkuß zu empfangen. Alles ging glatt über die Bühne. Jetzt erst merkte ich, daß noch jemand im Zimmer war, eine schwarzgekleidete Frau. Sie war gerade dabei, für Urgroßmutter ganz leise ein Tablett aufzubauen. Also eine Krankenschwester. Auf Zehenspitzen schlich sie sich ans Bett. "Zeit zum Einnehmen!" flüsterte sie kaum vernehmlich. Urgroßmutter richtete sich langsam auf. Liebevoll strich sie mir über den Kopf. Ich verstand. Nach dieser ersten kleinen Visite wußte ich genau, daß es mir gar nicht so schwer fallen würde, Mutters Anweisungen genau zu befolgen und Urgroßmutter keinen Kummer zu bereiten.

"Bleibe ja ganz hier in der Nähe, hier am Ring, direkt vor unserem Hause!" Mutters Befehl, aber gar nicht so übel. Genau wie bei uns in Lüben vor dem "Grünen Baum" gab es hier in Rakwitz einen schönen Laubengang um den ganzen Ring herum. Dort konnten die Kinder spielen, geschützt vor Regen und grellem Sonnenschein. Und in eben diesem Laubengang entdeckte mich sehr bald Kurt, der Nachbarjunge. Wir wurden bald unzertrennliche Freunde. Von ihm bekam ich auch seinen wertvollsten Tip: "Sieh mal, dort vor der Haustür, der alte Mann mit dem langen Bart. Morgens geht er los mit dem braunen Lumpensack, aber pünktlich um zehn sitzt er hier und ißt sein zweites Frühstück. Den muß man sich zum Freunde halten." Warum ausgerechnet den als Freund? Noch dazu mit solch einem alten schmutzigen Hirthund, der einen doch beißen konnte? Ein bißchen feige kam ich mir ja vor. "Hab keine Angst", beruhigte mich Kurt. "Du hast ja mich, und das Johannisbrot aus seinem Frühstücksbeutel ist schließlich auch nicht ohne. Das bringt er doch für uns Kinder mit." Johannisbrot! Hier war kein Halten mehr.

Die Uhr schlug zehn. Mit müden Schritten, den Rücken gebeugt unter der schweren Last, ein weißes Beutelchen in der Hand, den zottigen Hirthund treu an seiner Seite, so kam er auf uns zu. Nicht mehr der Lumpenmann, er hatte sich in Knecht Ruprecht verwandelt und reichte mit liebevoller Geste jedem eine dicke süße Schote. Dann erst verzehrte er sein mageres Frühstück. Und diese Zeremonie wiederholte sich jeden Morgen. Bei allem sonstigen Spiel war dies der Höhepunkt meines Besuches bei Urgroßmutter, blieb aber doch ein sorgsam gehütetes Geheimnis zwischen Kurt und mir.

Mutter hatte inzwischen alle Hände voll zu tun, um Urgroßmutters Pflegerin ein wenig zu entlasten und auch ihr Kind durch diese ungewöhnlichen Wochen zu leiten. Es wurde nur im Flüsterton gesprochen, und ins Krankenzimmer durfte ich höchst selten. Dabei hatten es mir die traurigen blauen Augen und das gestickte Häubchen auf dem schneeweißen Haar der Urgroßmutter angetan. Die Arztbesuche im Haus wurden allmählich immer seltener, ja Mutter sprach sogar schon davon, daß wir bald wieder nach Hause fahren könnten. Niemand hatte es für möglich gehalten, daß Urgroßmutter sich noch einmal erholen würde. Mutters Pflege hatte sicherlich ihr Teil dazu beigetragen.

Der Tag unserer Abreise war gekommen, Abschied von Urgroßmutter. Ein letzter Handkuß, jetzt ohne jede Scheu, und bald standen wir, von der Pflegerin begleitet, vor dem Haus. Diese hatte uns soeben gut und warm im Kutschwagen verpackt, als Mutter ihr zuflüsterte: "Was wird sie wohl sagen, wenn sie entdeckt, daß wir den Kommodenschub leer gemacht haben?" Doch da zogen schon die Pferde an. Keine Zeit mehr zum Antworten, aber auch keine, um noch weitere Fragen zu stellen.

Ich wußte nicht, was Mutter damals in Rakwitz gemeint hatte, bis sie es schließlich Vater berichtete: Urgroßmutter sei doch so krank gewesen, daß auch der Arzt kaum noch Hoffnung gehabt hätte, sie am Leben erhalten zu können. "Und so kramten wir einfach alles aus dem berühmten Kommodenschub hervor, aßen alles auf, was Urgroßmutter im Laufe der Jahre dort sorgfältig an haltbaren Leckerbissen angesammelt hatte." Da also kamen die herrlichen Fruchtbonbons her und das getrocknete Pflaumenbrot und die riesige Marzipantorte. Aber auch die Quärge, also Quarkkäse, doch knochentrocken, wie solche Käse eben zu sein pflegten. Vater lachte nach diesem Bericht laut heraus, was mir Mut gab, auch von meinem Johannisbrot zu erzählen. "Waaas, vom Lumpenmann?" Meine Eltern waren entsetzt, auf Vaters Gesicht von Lachen keine Spur mehr. "Aber", so ich sehr kleinlaut, "es kam ja auch aus einem weißen Beutel." Und schon war alles wieder vergeben.

Es war schön, wieder zu Hause zu sein, aber meinen Freund Kurt und den alten Mann mit dem Hirthund vermißte ich doch. Bald fand ich allerdings heraus, daß es auch in Lüben einen Mann gab, der mit einem großen braunen Sack durch die Stadt zog und allerlei aufsammelte. Der aber hatte keinen Hirthund und trug auch sein Essen nicht in einem weißen Beutel - und hatte auch kein Johannisbrot für uns Kinder.


6. Kindertheater

Da war aber noch die Weber-Lene , meine beste Freundin. Was hatten wir uns alles zu erzählen nach dieser unserer ersten Trennung! Es dauerte eine ganze Weile, bis wir wieder richtig vertraut miteinander geworden waren. Das bedeutete aber nicht, daß wir uns gelangweilt hätten. Unsere schönste Beschäftigung war immer, aus glänzendem Papier Engel auszuschneiden - blaue, gelbe, rote und weiße Engel, immer im Profil, um ja ihre Flügel zu zeigen. Oder wir spielten mit Modepuppen. Jede hatte ihren ganz besonders vornehmen Namen, je länger der Name war, desto besser. Genau wie wir es von den größeren Mädchen gehört hatten. Von den Weihnachtskerzen hatten wir genug Wachs gespart, um damit besser sitzende - klebende! - Kleider für die Papierpuppen herzustellen. All dies ging im Weberschen Erker (siehe Bild oben) vonstatten, in bestem Licht. Dieser Erker war unser Reich. Und von hier aus konnten wir auch gut die Straße übersehen, damit wir auch draußen nichts verpaßten.

Wir hatten ein richtiges Kasperltheater geliehen bekommen. Warum nicht mal eine Vorstellung, ganz echt, mit Billetverkauf für die Nachbarschaft veranstalten? Am besten an einem Sonntagnachmittag in Webers großer Wohnstube. Gesagt, getan. Flott ging alles voran: der Teufel hatte sein grausiges Spiel, und die Hexe mit ihrer kreischenden Stimme erschien uns recht wirkungsvoll. Ohne fremde Hilfe rollte das Drama ab, und Weber-Lene und ich verneigten uns am Schluß tief vor dem Publikum. Praktisch waren wir dabei auch veranlagt. Aus dem Erlös der verkauften Karten leisteten wir uns hinterher zwei dicke Marzipanbrote mit Schokoladenguß für fünfzig Pfennig! Daß jedes Ding zwei Seiten hat, zeigte sich wenige Stunden später: Der Magen revoltierte - und nicht nur er. Da war es sogleich abgemachte Sache, daß die nächste Vorstellung ohne Billetverkauf aufgeführt würde. Wir waren bald wieder in Stimmung.

Für diese Aufführung wählten wir uns unseren Hof als Theaterraum, genau zur Zeit des elterlichen Mittagsschläfchens ("nur ein Viertelstündchen"). Kein Mensch in unserer Nähe. Warum luden wir nicht einfach unsere fünf Hühner als Publikum ein? Denn Zuschauer brauchten wir doch. Ebenso hatten wir andere Kostüme nötig, um anders auszusehen. Wie wär's, wir tauschten unsere Kleider? Los ging's. Das Publikum hatte sich im Hof versammelt, Lene und ich schlüpften in unser Ankleidezimmer, den stockdunklen Hühnerstall. Dort zog Lene mit Leichtigkeit mein Kleid an, ich hingegen versuchte mit beachtlichem Kraftaufwand, mich in ihr niedliches Sommerkleidchen zu zwängen. Da krähte der Hahn, das Signal für den Beginn. Der Vorhang ging auf. Wir begannen mit einem Ballett, für mich ein recht "enges" Vergnügen in Lenes schmalem Kleid. Nach jeder Figur warfen wir dem Publikum, unseren fünf Hühnern; einen Handkuß zu, wie wir es auf der abendlichen Wiesenschau am Stadtrand gesehen hatten. Nur konnten wir nicht mit den so schönen, leuchtenden Trikots der Seiltänzer konkurrieren, und wie silberne Schneeflocken sahen wir auch nicht aus. Aber unser Publikum war ja auch nicht so wählerisch. Wir jedenfalls freuten uns über all diese Feinheiten. Und genau dafür hatte wiederum Vater kein Verständnis. Zumindest, wenn man dies nach seiner Stimme beurteilen wollte, die da plötzlich aus dem ersten Stock über unseren Köpfen ertönte. Ertönte? Sie brauste, drohte, donnerte und tobte! Unser Lärm hatte ihn wohl zur unrechten Zeit aus dem Mittagsschläfchen gerissen. Mutter mit ihrem Humor tröstete uns später: "Am liebsten hätte ich ja selbst mit im Publikum gesessen!"


7. Trotzdem kleine Freuden

Da wir in Lüben keine Höhere Knabenschule hatten, entschlossen sich die Eltern, die Jungen auf die Ritterakademie nach Liegnitz zu schicken. Das hatte allerdings für uns zu Hause zwei Seiten. Wenn auch Walter und Konrad in Liegnitz bei Tante Anne wohnten, hörten wir Vater doch öfters sagen: "Nein, das können wir uns nicht mehr leisten. Die Jungen kosten zuviel." Und so verschwand an Wochentagen der leckere Nachtisch. Aber ein Apfel war noch immer da, Anreiz genug, um auch weiterhin pünktlich zum Essen zu erscheinen. Ja, dieses Pünktlichsein war nicht immer leicht, besonders im Frühjahr, wenn das Murmelspiel begann, mit herrlichen Glaskugeln, die verglichen und bewundert wurden. Auch der Kreisel war nicht übel, drehte er sich wirklich erst einmal im Tanze. Und dann das berühmte Krocket für die Großen. "Du hast mit dem Fuß gemogelt!" - "Nein, ich hab nicht gemogelt. Die Lelli hat!" Und so gingen die Kugeln durch die Reifen, durch die Krone und dem Endstab zu. Wenn jetzt die Uhr schlug!

Aber auch Mutter kam auf ihre Kosten. Da saß sie zusammen mit Bekannten am Nachmittag an Holztischen unter Bäumen im Gartenrestaurant bei einer Tasse Kaffee mit Kuchen. Die Hände aber waren nicht müßig. So manche schöne Stickerei und Häkelei kam dabei ein gut Stück voran, während wir Kinder uns auf dem Rasen belustigten. Das gab natürlich Durst - zu unserer großen Freude. Das hohe Glas mit Braunbier und Zucker hatte es uns angetan. Für mich aber bedeutete der Holzlöffel mit dem langen Stiel den Höhepunkt. Irgenwie kam ich mir mit dem Holzlöffel in der Hand erwachsen vor. Dem Geschmack nach hätte ich eigentlich ein Glas Himbeersaft vorgezogen (aber der Holzlöffel...). Denn das war meine stille Liebe. Dies ging so weit, daß ich oft heimlich meine Zunge über Mutters Granatbrosche gleiten ließ und mir dabei reinen Himbeersaft vorstellte. Honig war auch etwas für mich Schleckermäulchen, und da taten es eben dann die schön polierten Bernsteine ihrer Halskette. Immer dieselbe Technik, sobald ich eines dieser Schmuckstücke auf Mutters Kommode liegen sah. Und so litt ich nie unter dem neuen Sparappell! Lelli machte sich glücklicherweise weniger aus Essen. Sie war zu verspielt.

Wochenmarkt in Lüben um 1900

Nach einem herrlichen Nachmittag im Freien kamen wir natürlich immer hungrig nach Hause. Mutter und unsere alte Bertha hatten für solche Fälle aber schon vorgesorgt. Die große Suppenterrine stand bereits auf dem Tisch. Ein Teller voll Mehlsuppe, mit Milch gekocht und mit Ei abgezogen, war ein guter Anfang. Dann kam eine große Schüssel mit Aufschnitt, ein Glas Tee mit etwas Rum darin und für Vater sogar noch Käse - aber kein Bier! Das sparte er sich für seine Besuche im "Grünen Baum" auf. Einmal in der Woche trafen sich da die Herren.

Selbstverständlich hatten wir nicht jeden Abend Mehlsuppe. War dies aber doch der Fall, so warteten wir schon auf Mutters Worte: "So, nun wollen wir mal einen Feiertag da hineintun." Und dabei plumpste ein Extrastück Butter in die Suppe. Hmmm! Wie dies schmeckte! Schade, daß die Jungen nicht dabei sein konnten. Ob Tante Änne ihnen wohl auch mal ein paar "Feiertage" in die Mehlsuppe tat - oder auf eine Weichquarkschnitte, als Belohnung für eine gute Schularbeit? Sicherlich waren die Jungen glücklich bei ihr.


8. Hausmusik

In unserem Heim spielte sich alles mehr oder weniger im Familienkreise ab. Vater war durchaus kein Gesellschaftsmensch. Sein Geschäft beanspruchte voll seine Kräfte, mußten doch alle Rechnungen und Briefe fein säuberlich mit der Hand geschrieben werden, ehe sie durch die Kopierpresse gingen. Das machte dann der Lehrling. Immer aber fand Vater noch Zeit, schnell nach oben in die Wohnung zu kommen, nur um Mutter zu sagen, wie lieb er sie hatte. Und wie stolz er auf ihre schöne Stimme war!

Mutter widmete sich ganz der Familie und dem Heim. Nach dem Abendbrot ging's an die Spiele, besonders an Halma. Oder Mutter setzte sich ans Klavier und ganz besonders für Vater: einfache Volkslieder, aber auch Lieder von Schubert. Obgleich ihre Stimme für Konzert und Oper ausgebildet worden war, sagte sie uns immer, es sei schwerer, ein einfaches Lied als eine Arie zu singen. Es machte ihr Spaß, mein Gehör zu prüfen. Da ging sie ans Klavier, berührte im Dunkeln eine Taste, und ich mußte ihr sagen, welcher Ton es war. Sie lehrte mich die ersten Kinderlieder, und es machte ihr jedesmal Freude, mein selbstgedichtetes und selbstkomponiertes Lied zu hören, das ich mir aus den vielen Bildern und Reimen meines neuesten Kinderbuches zusammengesetzt hatte. Lelli machte sich nicht viel aus Liedern. Spielte Mutter aber einen flotten Walzer, war Lelli ganz bei der Sache - und ich blieb still. Ich traute mich nicht, irgend jemandem zu sagen, wie ich zum Tanzen von Polka und Walzer gekommen war. Wieder mal bot sich hierbei das Mittagsschläfchen der Eltern an, und Bertha in der Küche mußte herhalten. In der Hoffnung, daß sie mir das Polkatanzen beibrächte, half ich ihr beim Abtrocknen, während sie mir ihre schöne "Gruselgeschichte mit dem Schlüsselloch" erzählte. Ja, und dann kam die Polka mit dem kleinen Extrahopps, dem Höhepunkt der Sache. Und der Walzer mit Schmiegen und Biegen, Mutters Lieblingstanz.

Da Bertha natürlich nicht immer verfügbar war, gab's zuweilen den Drehorgelspieler. Im Handumdrehen waren Weber-Lene und ich auf den Beinen. Die laute Musik half uns, bei Webers im Wohnzimmer ungestört das Tanzbein zu schwingen, ohne daß es jemand vom Laden her merkte. Weber-Lene und ich liebten den alten Mann mit der Drehorgel. Besonders wenn er "An der schönen blauen Donau" spielte. Manchmal kam auch ein junger Italiener. Da schien die Musik wohl nur die Begleitung zu sein für das Äffchen, den Kassierer, das allerlei Kunststücke verrichtete. Herrlich!


9. Allein nach Liegnitz

Da die Jungen ein bißchen Heimweh hatten, meinten Vater und Mutter, es wäre wohl ganz angebracht, wenn "Elschen" sie mal für ein paar Tage in Liegnitz besuchte. Meine erste Reise allein! Sie wußte, daß Tante Anne mich genau so gut betreuen würde, wie sie die Jungen bemutterte. Da Lelli bereits zur Schule ging, konnte sie mich nicht begleiten. Außerdem wollten meine Eltern, daß ich schon beizeiten lernte, auf eigenen Füßen zu stehen. Ach, sie hatten ja keine Ahnung, wieviele Reisen ich schon die Nacht zuvor durchgemacht hatte, ehe sie mich zum Bahnhof brachten. In jener Nacht war, wenn's zum Aussteigen kam, das Willkommen anders gewesen, und selbst Tante Anne hatte jedesmal anders ausgesehen, wenn sie mich begrüßt hatte. Eines war die Nacht über geblieben: Wachte ich auf, und das geschah oft in dieser Nacht, so war immer sofort die Angst da, den Zug zu versäumen. Mutter erlaubte mir, ihre schöne, mit einem Blumenkorb bestickte Reisetasche zu benutzen, die sie zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag von Tante Marie erhalten hatte. Obgleich nur mit wenigen Toilettenartikeln gefüllt und daher nicht schwer, gab mir die Tasche ein Gefühl großer Wichtigkeit. Während Mutter mir noch letzte Anweisungen gab - "Nicht aus dem Fenster lehnen! Nicht dicht an die Waggontür stellen!" - "Tante Anne einen netten Handkuß geben, wie eingeübt!" - legte Vater dem Zugführer ans Herz, mir ja rechtzeitig zu sagen, wann ich auszusteigen hätte. Ich wußte natürlich, daß mich der Mann nicht im Stich lassen würde. Auch war er so dick, daß er schwerlich davonlaufen würde.

Es saßen einige sehr nette Damen im Abteil für Frauen. Ich hätte mich eigentlich als ihre Tochter gefühlt, wenn dies nicht meine erste Reise gewesen wäre, die ich allein machte. Glücklicherweise hatte Mutter ihnen nicht gesagt, daß ich erst fünf Jahre alt war. Eine Dame bot mir gleich Süßigkeiten an - erfrischende Pfefferminzplätzchen für die Reise. Da mir aber Mutter vor langem eingeschärft hatte, nie etwas von Fremden anzunehmen, war dies jetzt eine heikle Situation. Da fiel mir ein: in meiner Reisetasche waren doch einige Bonbons. Und die waren genau so gut. Den ganzen Weg entlang tanzten die Telegrafenstangen am Zug vorbei und erinnerten mich an die Reise zur Urgroßmutter nach Rakwitz. Ich konnte kaum die Zeit erwarten, die Jungen wiederzusehen und mir Tante Anne anzuschauen. Ich wußte von ihr nur, daß sie eine unverheiratete Dame war und daß mit ihrem Rücken irgend etwas nicht in Ordnung war. Daher konnte sie wohl nicht zum Bahnhof kommen. Doch als ich ausstieg, kamen auch schon die Jungen angestürmt und begrüßten mich überschwenglich. Wir mußten ziemlich weit gehen, doch ich lief tapfer zwischen den Jungen mit, Walter trug die Tasche.

Ein Dienstmädchen mit kleinem, weißem Spitzenhäubchen öffnete die Tür. Ich hatte niemals gesehen, wie die Jungen einen Handkuß gaben, bewunderte aber nun die Eleganz, mit der sie auf Tante Anne zugingen, die auf dem roten Plüschsofa im Salon saß. Also brauchte ich es nur nachzumachen. Alles war aber viel leichter, als Tante Anne mich auf die Stirn küßte. Der Kaffeetisch war in einem kleinen Boudoir gedeckt. An der Rückwand ein winziges Sofa nur für Tante Anne, der Sofabezug bestickt. Neben dem Sofa - eine Klingelschnur, falls man das Dienstmädchen herbeirufen wollte. Auf dem ovalen Tisch stand ein großer Napfkuchen. Gedeckt war mit feinen, dünnen Tassen, die ein Dekor von blauen und goldenen Medaillons hatten. Daneben stand der schöne himmelblaue Zuckernapf in einem silbernen Behälter mit Weintraubenmuster und einem Henkel aus kleinen Silbertrauben. Neben dem Napfkuchen eine große Kristallschüssel, gut gefüllt mit Schlagsahne. Viel Zeit, die alten Bilder an der Wand zu betrachten, gab es nicht. Doch eines erschreckte mich zutiefst: Ein Mann mit langem, dunklem Bart, ganz in Schwarz gekleidet. Tante Anne hatte mein Erschrecken bemerkt und versuchte, mich zu beruhigen, wobei ihre großen blauen Augen richtig lachten: "Nein, der tut dir nichts. Das war unser Großonkel, ein sehr guter Mann. Er war Richter." Und dann der Blumentisch am Fenster! Welch schönes Heim für die Jungen in Liegnitz. Da machte es wirklich nicht viel aus, wenn wir daheim in Lüben etwas am Nachtisch sparen mußten.


10. Kinderparty um 1890

Am nächsten Nachmittag waren Walter, Konrad und ich bei einer Jugendfreundin von Mutter zum Kaffee eingeladen, einer Frau Major Müller. Na ja, eigentlich war ihr Mann Major, aber damals übertrug man selbst militärische Rangbezeichnungen auf die Ehefrau. So streng waren die Sitten. Kurzum, wir waren bei Frau Major Müller, Tante Änne gab inzwischen ihr obligates Kaffeekränzchen für drei andere Damen. Wir wollten gerade gehen, als wir dem ersten Gast begegneten, einer Dame mit einem schwarzen Fächer und einer riesigen Tasche in der Hand. Tante Änne erklärte mir später, daß dieses Taschenmonstrum ein Pompadour gewesen sei: Transportbehälter für Brillen, Handarbeiten, manchmal auch für ein Buch! Den Fächer brauchte man damals zur - Konversation. Warum wohl? Vielleicht zur Abkühlung bei aufgeregter Unterhaltung nach mehreren Tassen heißen Kaffees? Ich traute mich nicht, danach zu fragen.

Es war ein schöner, warmer Tag, und Tante Änne hatte mir erlaubt, das neue weiße Häkelkleid anzuziehen. Mutter hatte es gemacht und mit himmelblauen Borten durchzogen. Hinten hatte das Kleid eine schöne Damastschleife. Zu dieser Kinderparty waren sieben Gäste eingeladen, so daß wir mit den beiden Müllerschen Gymnasiasten und ihrer Schwester Madi zehn waren. Eine lebhafte Gesellschaft, die von Anfang an keinen Stimmungsmacher nötig hatte. Jeder hatte auf seinem Teller einen Knallbonbon vorgefunden. Da brauchte er den Nachbarn zum Ziehen, und dann kam die Aufregung: "Ich hab 'nen Hut!" - "Ich 'n Ring aus Gold!" - "Ich einen aus Silber mit 'nem roten Stein!" Auch die Jungen kamen nicht zu kurz mit ihren Hüten. Genau wie im Goldschiener-Kasten.

Da waren Berge von Kuchen, als wir mit der heißen Schokolade anfingen. Sobald wir uns aber nach angeregter Unterhaltung und möglichst manierlichem Kauen wieder erhoben, schien der Tisch, als wäre Mutter mit der Krümelbürste drübergegangen. Die Jungen verzogen sich, um sich die von Georg und Otto geschnitzten Sachen anzusehen - Kästen und Bilderrahmen -, dazu die neuesten Laubsägearbeiten. Die Mädchen spielten mit Madi Müllers Modepuppen und bewunderten die eleganten neuen Kleider. Dann wurde im Garten gesungen und mit den Jungen Versteck gespielt, bis es Zeit zum Puddingessen war. Grießflammerie mit - Himbeersoße! Wer konnte da noch widerstehen? Dann einige ruhige Gesellschaftsspiele bis sieben Uhr, ab nach Hause zu Tante Änne und nach einem mageren Abendbrot ins Bett.


11. Heimfahrt

Mein letzter Tag in Liegnitz. Die Jungen mußten schon sehr früh zur Schule weg, während sich Tante Änne mit dem Anziehen Zeit ließ. Dann rief sie mich. "Nun, Elschen, sollst du dir noch mal meine Blumen draußen ansehen, die ich doch selbst betreue. Martha bringt uns das Frühstück auf den Balkon." Dort standen rundherum mehrere Reihen Blumentöpfe mit weißen und roten Geranien - einfachen und doppelten, wie mir Tante Änne erklärte. Sie liebte es, hinter ihrer selbstgezogenen Blätterwand zu sitzen. Es war natürlich nicht ganz leicht für sie, ihre Blumen jeden Morgen vor dem Frühstück mit der kleinen grünen Kanne zu gießen. Das Füllen der Kanne besorgte das Mädchen, alles genau organisiert. Für Tante Änne aber eine gesunde Bewegung vor dem Frühstück. "Ich liebe es doch so sehr, in meinem Garten zu sitzen, wenn alles so frisch ist."

Ich hörte ihr so gern zu, wenn sie aus ihrer Jugend erzählte. Das gab ihrem Gesicht, im allgemeinen sehr blaß, eine rosige Farbe. Es schien mir besonders so, als ich sie fragte, ob sie mal einen Liebesbrief erhalten hätte. Da drehten sich ihre Augen zum Fenster, ein Signal für mich, keine weiteren Fragen zu stellen. Schade! Auf der Rückreise im Zug gab es viel zu denken. Die arme Tante! Konnte sie doch wirklich nicht mehr ausgehen! Aber selbst, wenn sie es gekonnt hätte, ohne den Balkongarten und das Boudoir hätte diesem kleinen Heim etwas gefehlt. Alles paßte so gut zusammen.


12. Sommersingen

Sommersonntag Laetare, Frühlingsanfang. Diesmal hatten die Eltern mir erlaubt, mit Weber-Lene Sommersingen zu gehen, vorausgesetzt, das Wetter würde schön sein. Außerdem war uns beiden eingeschärft worden, unter keinen Umständen Geld anzunehmen. Es war herrlicher Sonnenschein, als wir uns gleich nach dem Frühstück auf den Weg machten, jede in ihrem hübschesten weißen Kleid mit roten Schleifen auf den Schultern und einem Blumenkränzchen auf dem Kopf. Wir trugen jede einen Stock mit bunten Papierstreifen an der Spitze, in der anderen Hand ein Körbchen mit Gänseblümchen an jeder Seite des Henkels. Wir wußten genau, wo wir anfangen sollten. Im Bäckerladen! Und dort trugen wir unser Lied vor:

Summer, Summer, Summer,
ich bin a kleener Pummer.
Laßt mich nicht zu lange stehn,
ich muß a Häusel weitergehn.

Das erbrachte eine Handvoll roter und weißer Anisbonbons. Dann schnell zum Fleischer nach nebenan. Für jede von uns ein großes Stück Knoblauchwurst, schön eingepackt, hinein ins Körbchen. Die kannten unseren Geschmack, denn wir waren gute Kunden. Nun zum Kurzwarenladen am Ring. "Vielleicht haben die 'n paar Puppenkleiderflecken und ausrangierte Knöpfe. Wir können ja alles gebrauchen." Auch ein Singen in der Apotheke lohnte sich. Ein Tütchen mit Pfefferminzplätzchen, die wir uns zusammen mit den Anisbonbons vom Bäcker genau teilten. Die Knoblauchwurst wurde gleich zum zweiten Frühstück um zehn Uhr verzehrt. Gut, daß die Eltern uns nicht erlaubt hatten, Geld anzunehmen!

Laetare-Zeichnung von Theo Dames

Erinnerung an Laetare. Gezeichnet an einem Sommer-Sonntag 1973 von Theo Dames. Darunter das Sommersonntagslied:
"Rotgewand, Rotgewand, schöne grüne Linden suchen wir,
suchen wir, wo wir etwas finden. Geh'n wir durch den grünen Wald, da singen die Vöglein jung und alt. Frau Wirtin, sind Sie drinnen? Sind Sie drin, so komm'n Sie raus und teil'n Sie uns die Gaben aus. Wir könn'n nicht lange stehen, wir müssen weitergehen."


13. Ostersonntag

Die Eltern hatten uns gesagt, der Osterhase käme erst nach dem Frühstück zu uns, denn er sei mit den vielen Kindern in der Stadt beschäftigt. Überbeschäftigt! Walter, Konrad und Lelli waren genau so aufgeregt wie ich. Schon lange vor dem Frühstück suchten wir alle Ecken und Winkel ab. Nichts zu finden. Wir hatten so gehofft, daß der Osterhase vielleicht doch ein bißchen eher vorbeigekommen wäre. Um dann die Angelegenheit besonders feierlich zu machen, spendierte Mutter jedem von uns ein großes Schweineohr, dazu zwei Tassen voll Schokolade statt der üblichen Milch. Deshalb hatten wir also den üblichen sonntäglichen Streuselkuchen nicht gefunden! Kaum mit dem Frühstück fertig, ertönte auch schon Vaters kleine Pfeife, das ersehnte Signal! Lelli fand natürlich das erste Ei, ein rotes Ei, dann ein Schokoladenei mit kleiner Zuckergirlande. Walter und Konrad kamen mit schönen grünen, blauen und gelben Eiern zurück, nachdem sie das Sofa und die Sessel im Wohnzimmer gründlichst durchsucht hatten. Mir half Mutter ein bißchen. Da ich noch nicht so weit nach oben reichen konnte, empfahl sie mir, doch mal unten im Hof mich auf die Suche zu machen. Im Nu hatte ich auch unter dem Apfelbaum ein kleines Nest vom Osterhasen gefunden: vier schöne Eier, zwei davon aus Schokolade und mit Krem gefüllt. "Wenn du da reinbeißt, sei recht vorsichtig." Ich leckte jedenfalls daran, und nichts passierte. Inzwischen jagten Walter, Konrad und Lelli durchs ganze Haus. Schließlich kamen sie mit ihrer Beute zurück: Jeder hatte vier Eier gefunden. Wir versammelten uns im Boudoir. Was ich nicht begreifen konnte: Wer hatte denn dem Osterhasen von unserem kleinen Apfelbaum erzählt und daß ich gefüllte Schokoladeneier lieber aß als Hühnereier?


14. Zur Großmutter nach Breslau

Helle Aufregung in unserem Haus. Wie eine Bombe hatte das Telegramm von Großmutter, die in Breslau wohnte, eingeschlagen: KRANK STOP BITTE KOMMEN STOP KINDER MITBRINGEN Großer Familienrat. Walter und Konrad wurden etwa eine Woche später aus Liegnitz zu ihren Sommerferien erwartet, Lelli hatte dann auch frei. Da die Jungen unserer Großmutter von Mutters Seite sowieso nicht besonders nahestanden, beschloß man schließlich, daß Mutter Lelli und mich mitnähme. Bertha sollte inzwischen Vater und die Jungen betreuen. Lelli hatte - im Gegensatz zu mir - Großmutter schon einmal gesehen und konnte sich sogar noch an sie erinnern. Ich fürchtete mich ein wenig, mehr als sonst, wenn ich fremden Leuten begegnete. "Sie ist doch aber deine Großmutter!" sagte ich mir. Und trotzdem. "Wenn ich doch wenigstens so hübsch wie Lelli wäre, dann könnte mir nichts passieren." Aber nach allem, was mir Lelli gesagt hatte, wollte ich auf alle Fälle mich sehr ruhig und höflich verhalten, weil Großmutter ja eine alte Dame war. Ich würde nur still dasitzen und mir alles ansehen und anhören. Wenn Lelli dabei war, könnte ich vielleicht sogar einmal spielen.

Wir sollten solange bleiben, wie uns Großmutter haben wollte. Nie war mir so nach Spielen mit Weber-Lene oder den langen Spaziergängen mit Vater zumute als in dem Augenblick, da wir den Zug bestiegen. Selbst die Schinkenschnitten und die Pfefferminzplätzchen, die es als Reiseverpflegung aus der großen Tasche gab, ließen mich den kommenden Besuch bei Großmutter nicht vergessen. Oft schaute ich mir verstohlen Mutters Gesicht an, ob sie wohl auch soviel Angst haben mochte wie ich. Sie hingegen schien die Reise zu genießen, denn sie unterhielt sich mit uns beiden Mädchen, als gäbe es auf der ganzen Welt keine Großmutter. Auch Lelli schien an der Fahrt ausgesprochene Freude zu empfinden.

Ich war nie zuvor in einer wirklichen Großstadt gewesen, und als unser Zug über eine hohe Eisenbahnbrücke rollte, konnten wir tief unten kleine, ja winzige Straßen mit Häuserreihen sehen, genau wie in den Spielschachteln, die Vater zu Weihnachten verkaufte. Die Leute auf den Straßen unter uns erinnerten mich an die Zwerge aus unserer Lübener Wiesenschau. Jeder war so geschäftig. Ob sie wohl gar tanzten? Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht, denn kurz darauf lief der Zug in den Breslauer Hauptbahnhof ein. Wir mußten aussteigen. Wenn aber Großmutter, so sinnierte ich beim Aussteigen weiter, in so einer geschäftigen, fast fidelen Stadt lebte, dann war sie vielleicht auch ganz lustig, wenn sie gesund war. Auch an Tante Lisa hatte ich gedacht. Lelli hatte mir erzählt, daß sie ledig sei und nie geheiratet habe, nur um immer bei Großmutter sein zu können. Und Onkel Franz? Auf ihn freute ich mich nun wirklich, denn Lelli hatte mir erzählt, wie schön und elegant er sei.

Obwohl ich schon einmal in einer Pferdekutsche gefahren war, sah der Wagen, der uns zu Großmutter bringen sollte, doch so ganz anders aus. Genau vor unseren Augen war da so etwas wie eine Uhr mit einem Riesenzeiger, der mit einem kleinen Tick von einer Zahl zur anderen hüpfte. Es war alles so aufregend, daß wir von der Stadt gar nicht viel mitbekamen. Im Handumdrehen hielten wir auch schon vor Großmutters Haus. Als wir die mit einem roten Teppich ausgelegten Treppen hinaufstiegen, fing mein Herz zu schlagen an, und ich hoffte nur, den Handkuß gut hinter mich zu bringen und nicht etwa mit der Nase auf Großmutters Knöchel zu stoßen. Auch der Kuß durfte keinerlei Geräusch machen, wir hatten es am Tage zuvor noch einmal gründlich geübt.

Eine stattliche Dame öffnete die Tür. Die Haushälterin. Dann kam Tante Lisa, um uns zu begrüßen. Obgleich Hochsommer, war Tante Lisa ganz in Dunkelgrau gekleidet und trug um die Schultern ein kleines Cape. Mit einem beneidenswert schönen Lächeln begrüßte sie uns und gab Mutter, Lelli und mir einen herzhaften Kuß. Hier konnte ich also auf den Handkuß noch einmal verzichten. Tante Lisa schlug vor, daß wir uns erst einmal organisierten - wie sie Kofferauspacken und Sich-frisch-Machen umschrieb -, ehe wir zu Großmutter gingen, damit wir diese nicht unnütz aufregten. Das klang nicht sehr ermutigend. Während Tante Lisa Mutter beim Auspacken half, konnte ich sie näher betrachten. Da war ihr Haar: in der Mitte gescheitelt, wie Tante Ännes, aber grau. Irgend etwas fiel mir dabei auf. Vater hatte einmal zu mir gesagt, daß man ein feines Bild immer unter Glas halte. Tante Lisas Haar war zu einem Knoten zusammengefaßt, und dieser Knoten war von einem Netz verdeckt. Sicher wegen der funkelnden Kämme und Haarnadeln, die ganz mit Granaten bedeckt waren, wie Mutters Brosche.


15. Die Niere

Wir standen also endlich bereit, um in den Salon zu treten, in dem Großmutter krank darniederlag. Tante Lisa hatte uns gesagt, daß sie diesen Raum nur im heißen Sommer benützten, weil er sonst für Großmutter und sie viel zu kalt war. Es schien hier wirklich ein bißchen kühler zu sein. Da waren zwar die weichen roten Teppiche im Treppenhaus gewesen, doch in der Wohnung gab es nichts als Grau, Schwarz und Dunkelgrün.

Als Tante Lisa die Tür zum Salon öffnete, verging mir fast die Luft. Ein großes grünes Sofa genau in der Mitte vor der gegenüberliegenden Wand. Mitten drauf die Großmutter, genau über ihr der Regulator. Auf Zehenspitzen näherten wir uns ihr zur Begrüßung: erst Mutter, dann Lelli und - hinter ihr versteckt - ich. Was wohl Lelli dachte, als sie Großmutter nach einem niedlichen Knicks die Hand küßte? Ich wußte nur soviel, daß meine Hand nicht nur feucht und kalt war, sondern auch zitterte, als Großmutter mir ihre schöne weiße Hand entgegenstreckte. Ich kann heute nicht mehr sagen "wie", aber er funktionierte - der Handkuß.

Großmutter forderte uns auf, am Sofatisch Platz zu nehmen und ihr von der Reise zu berichten. Besonders schien sie an unserer Fahrt in einem Taxameter, wie man die Pferdedroschke mit der seltsamen Uhr damals nannte, interessiert zu sein. Während wir erzählten, ging ab und an ein feines Lächeln über ihre Züge. Vielleicht konnte sie doch ein wenig mehr Geräusch vertragen, dachte ich. Mutter, Lelli und ich genossen inzwischen unsere heiße Schokolade mit Schlagsahne und den herrlichen Streußelkuchen. Es tat mir nur leid, während wir genießerisch die Schokolade tranken, daß Großmutter und Tante Lisa sich mit einem Glas voll Milch begnügten.

Plötzlich ein kleiner Aufschrei. Großmutter: "Au, meine Wanderniere!" Ich wußte nicht, was sie meinte. Wo konnte nur Großmutters Niere herumwandern, Großmutter war doch nicht offen? Ich sah zu Mutter hinüber. Sie war ganz ernst. Ich traute mich aber nicht, Lelli anzusehen. Jedesmal, wenn Großmutter nun aufschrie, fragte Tante Lisa nur: "Homöopathie oder Allopathie, Mama?" Dann nahm Großmutter kleine Zuckerpillen, die Tante Lisa ihr sorgfältig vorgezählt hatte. Wie konnte man nur solche Zuckerkörnchen zählen, und was machten überhaupt ein paar mehr oder weniger aus? Ich hätte eine ganze Tütevoll davon essen können!

Wir blieben eine knappe Stunde sitzen und gerade, als Tante Lisa dabei war, Tropfen zu zählen, die durch ein komisches Röhrchen direkt aus der Flasche in ein Trinkglas flossen, standen wir auf. Großmutter bekam ihre Medizin. Es war alles so interessant für mich. Tante Lisa begleitete uns zur Tür. "Nun macht's euch schön gemütlich." Damit entließ uns Großmutter - und ich hatte wieder einen Handkuß zu geben.

Endlich allein. Lelli brannte vor Neugier. "Was ist denn nur Allopathie? Und dann das andere Wort?" Nach kurzer Pause kam Mutters Antwort: "Na, ich möchte sagen: Allopathie ist eine ärztliche Behandlung mit größeren Pillen und größeren Tropfen für Leute, die schnell gesund werden wollen. Und Homöopathie ist eine Behandlung mit kleineren Tropfen und winzigen Pillen für Leute, die gern zählen und gern auf die Uhr gucken." Das beruhigte unsere Neugier ungeheuer!

An diesem Tag bekamen wir Großmutter nicht mehr zu sehen, weil sie sich ziemlich erschöpft fühlte und früh zu Bett gehen wollte. Die ganze Zeit hofften Lelli und ich auf Onkel Franz. Wir waren daher furchtbar enttäuscht, als Tante Lisa uns eröffnete, daß er für den Abend eine wichtige Verabredung hätte und leider nicht daheim sein könne. Ich mußte also bis zum nächsten Tag warten, ehe ich mir Onkel Franz ansehen durfte.

Nach einem leichten Abendbrot mit Tante Lisa spielten wir Halma, Lellis Lieblingsspiel. Es hätte mir ja nichts ausgemacht, zu verlieren, wären da nicht zwei Bonbons als erster Preis ausgesetzt gewesen. Während Lelli ihren ersten Preis gleich an Ort und Stelle verzehrte, ließen Mutter und Tante Lisa mich ihre zweiten Preise gewinnen. Das machte Tante Lisa viel Spaß. Zwischendurch verließ sie jedoch ab und zu das Zimmer, nur um zu sehen, ob Großmutter nichts fehle. Dabei kümmerte sich doch schon die Haushälterin um sie. Ach, wenn sie mich doch einmal mitgenommen hätte, damit ich Großmutter im Bett gesehen hätte! Als wir am Nachmittag in den Salon getreten waren, war sie mir wie eine Königin erschienen - obgleich ich noch nie eine Königin gesehen hatte.

Am folgenden Morgen hatten Mutter, Lelli und ich unser Frühstück für uns allein. Es gab da eine Schüssel mit etwas, das ich noch nie gesehen hatte. Mutter nannte es Grütze. Grütze in einer Schüssel? Bertha hatte mir doch einmal gesagt, daß Grütze das Ding sei, was die Leute im Kopf hätten! Großmutters Idee gefiel mir gar nicht. Und doch mußte alles gegessen werden - auch das, "was andere Leute im Kopf haben". Oft genötigt, mit viel Zucker nachgeholfen, schafften wir es endlich, den Haushalt nicht zu stören: Alles war aufgegessen worden.

Tante Lisa hatte sich entschuldigt, weil sie etwas Ruhe brauchte. So schlug Mutter nach dem Frühstück vor, jeder solle ein bißchen lesen, jeder auf seine Weise - ich aus einem Bilderbuch. Plötzlich klopfte es an der Tür. Das Mädchen kam mit einem winzigen Paket und einem Brief an - mich. Während Mutter mir den Brief vorlas, machte ich das Paket auf: acht Bonbons in einer Tüte. Im Brief stand, daß ich dies bekomme, weil ich so ein artiges Kind sei und Großmutter nicht im Schlaf gestört habe. Und daß ich meiner Schwester die Hälfte abgeben solle. Der Brief war unterzeichnet: DER POLIZIST AN DER ECKE. Ich hatte niemals von einem Polizisten gehört. Mutter aber sagte mir, wir hätten in Lüben sogar zwei Polizisten und einen Nachtwächter mit einer großen Laterne. Der Breslauer Polizist jedenfalls mußte Großmutter und Tante Lisa sehr liebhaben, wenn er sogar vom Besuch der Enkelin und Nichte sofort Notiz nahm. Es lohnte sich also, in einer großen Stadt artig zu sein, wo der Polizist an der Ecke ebenso klug war wie der Osterhase in Lüben. Denn dieser wußte ganz genau, was wir besonders gern mochten.


16. Onkel Franz

Wir brauchten nicht mehr zu flüstern, Großmama fühlte sich heute viel besser. Jeder freute sich im stillen auf ein richtiges Mittagessen im Familienkreis, mit Großmutter und Onkel Franz. Während Tante Lisa Großmutter beim Anziehen half, bombardierten Lelli und ich Mutter mit Fragen. Alles wollten wir über Onkel Franz wissen. Mutter sagte uns, er sei Staatsanwalt - und habe immer sechzehn Anzüge im Schrank. Für uns Kinder eine aufregende Berufsbeschreibung! "Er trägt stets einen seidenen Zylinder, und bei den Damen ist er sehr beliebt. Zwar wohnt er hier bei Großmama und Tante Lisa, ist abends jedoch selten daheim, weil er sich vor Einladungen kaum noch retten kann." Mutter sagte auch, daß es kaum etwas gebe; was Onkel Franz nicht wisse. Das wiederum ängstigte mich etwas und gab auch Lelli zu denken.

Ein stattlicher Mann, ungefähr so groß wie Vater, kam ins Zimmer - Onkel Franz! Sogleich hob er mich hoch, nachdem er zuvor schnell noch Lelli mit einem kräftigen Händedruck begrüßt hatte. Zum Hochheben war Lelli wohl zu schwer für Onkel Franz. Da Mutter und Onkel Franz sich lange nicht gesehen hatten, mußte sie ihm von sich und Vater erzählen. So konnte ich in Ruhe den berühmten Onkel betrachten. Er hatte, genau wie Vater, einen Schnurrbart, dazu kam aber noch ein kleiner Spitzbart. Während der Unterhaltung strich er mit der Hand oft darüber, als wollte er dem Spitzbart sagen: "Eigentlich bist du recht nett." Oder er feuchtete Daumen und Zeigefinger an und gab jedem Schnurrbartende eine kleine Drehung nach oben. Der Spitzbart wurde auf eben die gleiche Weise gedreht, so daß er in einer sehr feinen Spitze endete. Sehr elegant!

Es läutete zum Mittagessen, wir gingen in den Salon, der im Sommer auch als Speisezimmer diente. Großmutter auf dem Sofa. Diesmal schien sie mir aber nicht so stattlich zu sein wie am Vortage. Als sie Mutter bat, an ihrer Seite Platz zu nehmen, wußte ich: Großmutter würde nicht in der Sofamitte unter dem Regulator sitzen. Wir alle, auch Onkel Franz, begrüßten sie mit einem Handkuß. Für mich verlor er allmählich etwas an Schrecken. War es die Übung? Auf jedem Platz lag ein Serviettenring, ein silberner Ring mit einer Bandschleife. Und jeder hatte eine andersfarbige Schleife bekommen, um Verwechslungen vorzubeugen.

Bald fand ich heraus, warum Onkel Franz bei den Damen so beliebt war. Er war ein so amüsanter Plauderer. daß selbst Großmutter lachen mußte oder zumindest stolz mit dem Kopf nickte. Das tat auch Tante Lisa. Dabei schien Großmutter ihre Wanderniere ganz zu vergessen - oder war die Niere über Nacht vielleicht zurückgekommen? Das Pillen- und Tropfenzählen entfiel seltsamerweise auch, Lachen war anscheinend eine homöopathische Medizin.

Großmutter erhielt etwas anderes vorgesetzt: einen ziemlich großen Teller, auf dem nur eine einzige dicke Scheibe geräucherter Schinken lag. Nichts weiter. Ich konnte auch nicht begreifen, warum Tante Lisa nicht mit uns aß, wo doch Braten, Gemüse und Kartoffeln so delikat waren. Sie half Großmutter, das zarte Fleisch aus der Schinkenscheibe mit zwei Gabeln zu zerpflücken. Uns erklärte sie, daß das äußere Fleisch Großmutter nicht gut bekäme. "Das Küchenpersonal kann sich aus diesem Kranz dann Fleischklöße machen." Hm, die Brosamen, die von des Herrn Tische fallen ... Aber soweit dachte ich damals noch nicht. Schließlich schien Tante Lisa doch so etwas wie Hunger zu bekommen, denn sie langte auch zu, wenn auch nicht gerade sehr herzhaft. Onkel Franz fühlte währenddessen Lelli auf ihren geographischen Zahn: er bombardierte sie mit Fragen zur Erdkunde, und die ganze Tischgesellschaft wartete jedesmal gespannt darauf, ob sie's wisse oder wie sich wohl die kleine, aber gewitzte Lelli aus der Affäre ziehen würde. Immer aber endete die Fragerei mit einem Scherz von Onkel Franz, so daß alle etwas zu lachen hatten. Lelli und ich waren fest entschlossen, nur Onkel Franz zu heiraten, nie einen anderen. Und auf unsere diesbezügliche Frage antwortete er sofort mit einem Ja. Wir strahlten, Lelli und ich. Die Zeit verging. Es gab noch einmal ein Päckchen vom Polizisten an der Ecke, außerdem einen Besuch im Zoologischen Garten. Onkel Franz führte uns hin, und wir durften die Affen mit Backpflaumen und rohen Eiern füttern. Tante Lisa war wiederum daheim geblieben und betreute liebevoll Großmutter. Allen schien unser Besuch zu gefallen. Dann und wann wurde sogar gesungen, und Großmutters Zeigefinger dirigierte den Chor, in dem Lelli den - Baß sang!


17. Pferdebahn und Elektrische

Großmutter und Tante Lisa waren fast zehn Jahre nicht mehr ausgegangen! Und so kamen auch wir nur wenig an die Luft. Höchstens zu kleinen Spaziergängen nicht weit weg vom Haus, damit sich Großmutter ja nicht ängstigte. Eines Tages schlug Tante Lisa aber vor, zur Abwechslung doch endlich mal mit Mutter zum Einkaufen in die Stadt zu fahren. Mutter war bisher immer allein unterwegs gewesen. Herrlich!

Es gab zwei Möglichkeiten, in die Hauptgeschäftsgegend zu gelangen: mit der Pferdebahn und mit der Elektrischen, der elektrischen Straßenbahn, andernorts damals sehr vornehm auch Tramway genannt. Wir wollten beide Verkehrsmittel ausprobieren, nahmen aber zuerst einmal - der Sicherheit wegen! - die Pferdebahn. Das Pferd mußte wirklich nicht rennen, dazu war zuviel Verkehr auf den engen Straßen. Der Fahrer mußte immer wieder an der Leine über seinem Kopf ziehen, um die Glocke in Gang zu setzen: Signal für die Fußgänger, der Bahn aus dem Weg zu gehen. Viel Arbeit hatte das Pferd nicht zu leisten, der Wagen lief ja auf Schienen. Ausgenommen an der Haltestelle: Beim Anziehen mußte das Pferd so kräftig ziehen, daß ich immer versuchte, mich ein bißchen leichter zu machen.

Am Rathaus stiegen wir aus. Ein zentraler Punkt, den auch wir beiden Mädchen wiederfinden würden, sollten wir uns in der Menschenmenge verlieren. Nun hatten wir das Gefühl, in einer echten Großstadt zu sein, mit ihren schönen Läden, Kaufhäusern, Hotels und Cafes. Lelli und ich hielten uns fest an Mutters Kleid fest, weil sie ja die große Tasche für die vielen Päckchen tragen mußte. Höhepunkt unseres Ausfluges war schließlich der Besuch in einer Konditorei.

Auf dem Rückweg nahmen wir die elektrische Straßenbahn, damals Breslaus neuestes Verkehrsmittel. Eigentlich hatten wir drei alle ein wenig Angst vor der Elektrizität, doch das wollte keiner so recht zugeben. Es war aber dann gar nicht schlimm, und einen elektrischen Schlag hatte auch keiner bekommen. Während wir auf einer der langen Bänke saßen, konnten wir die Menschen auf der gegenüberliegenden Bank beobachten. Wie komisch! Sie saßen alle sehr gerade und aufrecht und nickten mit den Köpfen, aber keiner sprach. Vielleicht machte die Bahn zuviel Lärm. Doch gerade das war für uns so aufregend! Und wie in der Pferdebahn versuchte ich auch hier, beim Anfahren mich etwas leichter zu machen - um Elektrizität zu sparen. Energiebewußt?

Als wir nach Hause kamen, mußten wir Großmutter und Tante Lisa alles haarklein berichten. Sie waren noch nie mit der Elektrischen gefahren. "Meine Güte, was haben wir doch alles versäumt!" sagten sie immer wieder. Sie konnten sich aber noch an das schöne Stadttheater und an die Wachtposten vor dem Schloß der Großherzogin von Meiningen erinnern, auch an den Exerzierplatz hinter dem Schloß, wo immer die fabelhaften Paraden abgehalten wurden. Aber damals hatte ja noch Großvater gelebt, und man war an Geselligkeit im Haus gewöhnt gewesen. Das änderte sich erst, als Großvater als Kreisgerichtsdirektor in den Ruhestand trat. Er hatte nur noch ein Jahr etwas von seinem Ruhestand. Dann starb er, und es wurde ganz still im Haus. "Ich glaube, wir sind schon ganz komisch geworden", meinte Großmutter, und sie lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Im nächsten Augenblick ihr Ruf: "Lisa, Zeit für meine homöopathischen Pillen! Oh, meine Niere!" Arme Großmama, und wir konnten ihr nicht helfen!


18. Zum Abschied: Gewitter

Unser Besuch bei der kranken Großmama ging seinem Ende entgegen. Ein Brief von Vater hatte es entschieden. Er und die Jungen wurden zwar von Bertha bestens versorgt, sehnten sich jedoch sehr nach uns. Außerdem waren Lellis Sommerferien bald vorbei.

Es war unser letzter Abend bei Großmutter, ein sehr heißer Tag verschwand nur zögernd in der heraufkommenden Nacht. Über dem Haus zogen einige dunkle Wolken auf, und in der Ferne hörte man es dumpf grollen. Ein Gewitter. Eigentlich war es für Großmutter Zeit, sich zurückzuziehen. Doch nach dem ersten Gewittergrollen gab sie plötzlich sehr bestimmte Anweisungen - "zur Vorbereitung aufs Gewitter", wie sie sich ausdrückte. Für sie schien allerdings der Blitz bereits eingeschlagen zu haben. Alles rannte geschäftig in der Wohnung herum, Kästen mit eingemotteten Sachen wurden geöffnet, das Mottenpulverduftende herausgenommen und an seinen Platz in Großmutters Nähe gelegt. Wie bei einem großen Umzug. Da saß nun Großmama auf ihrem Sofa, der Tisch von ihr weit genug weggerückt, falls sie ... Lediglich ein kleiner Marmortisch zu ihrer Linken war geblieben, so daß sie im Notfall schnell nach der daraufstehenden Geldkassette mit dem Schmuck und den wichtigsten Papieren greifen konnte. Auf einem Kasten - auf dem Fluchtweg zur Tür! - zwei Paar Handschuhe und zwei Hüte, daneben die Bibel. Über einem Stuhl rechts von ihr lagen zwei Mäntel mit Pelzkragen, einer für Großmutter, der andere für Tante Lisa. Nachdem allen Anordnungen Folge geleistet worden war, Tante Lisa überzeugte sich schließlich noch einmal in einem letzten Rundgang davon, waren wir alle im Salon versammelt, Tante Lisa sank erschöpft aufs Sofa neben Großmutter. Alle versammelt? Natürlich nicht das Personal. Es hatte in diesen turbulenten Minuten bestimmt nicht viel Zeit gefunden, an sich und seine Sachen zu denken. Um die Jahreswende 1944/ 45 mag es in vielen Breslauer Wohnungen nicht anders ausgesehen haben als über fünfzig Jahre zuvor in Großmamas Wohnung. Nur zog an jenem fernen Abend ein vergleichsweise vergnügliches Gewitter am Himmel auf.

Der Weg zum Korridor war frei, man konnte an eine Waldschneise denken. Großmutter fing laut zu sinnieren an, was wohl alles passieren könnte, wenn sie und Tante Lisa - sie waren ja zehn Jahre nicht mehr ausgegangen! - bei strömendem Regen auf die Straße müßten. Den Tod würde man sich holen, eine Erkältung aber zumindest. "Wer weiß, wie lange wir dann auch auf eine Droschke warten müßten!" Über diesem dezenten Lamentieren vergaßen wir wiederum das Gewitter. Gewiß, es hatte ein paarmal kräftig geblitzt, genug, um mich das Fürchten zu lehren. Aber allmählich wich die Angst, ja, es fing an, Spaß zu machen, Großmama zuzuhören, in einer halbverpackten Wohnung zu sitzen. Nach gut einer halben Stunde war der Spuk vorbei. Großmutter gab das Entwarnungssignal, als sie verkündete: "So, jetzt können wir getrost schlafen gehen. Wir sind noch einmal verschont geblieben!"

Am nächsten Morgen bat uns Großmutter an ihr Bett. Und da gab es für mich doch eine Überraschung. Immer hatte ich Großmutter im Bett sehen wollen, nicht bloß auf dem Sofa liegen. Und in meiner Vorstellungswelt war sie die thronende Königin gewesen. Und nun? Verborgen hinter Medizinflaschen, Kästchen und Gläsern blickte ich auf eine liebe alte Dame. Keine Königin. Sie drückte jedem von uns die Hand und meinte dann: "Ich habe etwas zu beichten. Es stimmt, daß ich mich nicht sehr wohl fühlte. Meine Wanderniere. Die Doktoren helfen natürlich. Ich brauchte damals aber mehr." Damit wandte sie sich mit einer seltsam zarten Stimme an Mutter: "Ich wollte ja nur dich und Lelli wiedersehen und die Kleine endlich kennenlernen." Mich! Ich hätte sie am liebsten umarmt. Und tat es plötzlich auch. Wir alle umarmten Großmama.

Als wir aus dem Zimmer gingen, winkte sie uns mit Tränen in den Augen. "Auf Wiedersehen!" Erst jetzt merkte ich es: Auch Großmutter war menschlich. Seitdem liebte ich sie.


19. Ein Weihnachtsfest - anno 1890

Jedes Jahr um die Weihnachtszeit fühlen wir uns seltsamerweise unserer Kindheit besonders nahe, ganz gleich, wo wir diese Zeit erleben. Es ist auch immer das gleiche Christkind. dessen Geburt wir feierten und feiern, jeder auf seine Art. Und es ist auch die Jahreszeit des Teilens, der Anteilnahme, des Freudemachens. Denn die nördliche Hälfte unserer Erdkugel hat längst die Ernte eingebracht, es ist draußen meist kalt, die Tage sind kurz geworden.

Aber wie empfanden wir denn als Kinder Weihnachten? Weihnachten vor der Jahrhundertwende, als alles scheinbar so friedvoll auf Erden war? Es war die Zeit, da Mutter besonders darauf achtete, daß wir pünktlich um acht Uhr abends im Bett lagen. So sehr wir auch die Ohren spitzten, wir konnten keinen Ton von Mutters abendlichem Gesang aus dem Wohnzimmer hören, und es war wirklich nicht leicht, einzuschlafen. Wir spürten, daß etwas Geheimnisvolles in der Luft lag. Tagsüber flüsterten Vater und Mutter öfters miteinander. Oder Mutter rief uns zu, ehe wir in ein anderes Zimmer kamen: "Nicht reinkommen, warte eine Minute!" Meistens hörten wir ein leises Rascheln, und dann ihr Ruf: "Jetzt!" Egal, wie sehr wir mit den Augen dann das Zimmer auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichem in Augenschein nahmen, wir konnten nichts entdecken. Selbst unsere neugierige Lelli nicht. Ich glaubte, Mutter habe sicherlich einen kurzen Plausch mit Knecht Ruprecht gehabt und ihm von unseren Weihnachtswünschen erzählt. Und bestimmt hatte ihr der Bärtige dann einige seiner schönsten Geschenke für artige Kinder gezeigt.

Jedenfalls wünschte ich mir stets ein rosa Marzipanschweinchen und ein Liederbuch. Auf unserer Liste standen auch immer zwei Haarbänder, eins für den Zopf während der Woche, eins für den Sonntag, um schön geputzt in die Kirche gehen zu können. Das Haarband wurde dann rund um den Kopf gebunden, mit einer kleinen Schleife in der Mitte, wenn unser Haar, statt zum Zopf geflochten, in schönen Zuckerwasserlocken herunterhing. Mit dem Frisieren fing man schon am Sonnabend an.

Auf Mutters Rat hin legten wir unsere Weihnachtswunschzettel kurz vor dem Schlafengehen aufs Fensterbrett. Auf das innere, nicht das äußere Fensterbrett. In der Nacht würde Knecht Ruprecht sie dann einsammeln ... Wie konnte er aber bloß in die Wohnung rein, ohne daß man ihn hörte oder gar sah? Aber auch für Lelli und mich gab es wochenlang allerhand zu flüstern. Ob Mutter sich über einen selbstgestrickten Topflappen von Lelli freuen würde? Ich entschloß mich, für Mama ein kleines Nadelkissen mit Kreuzstichen zu sticken, genau wie ich es ihr abgeguckt hatte. Sie würde staunen. Da Walter, Konrad und Lelli zur Schule gingen, meinte Mutter, ich könnte doch für jeden bei Vater im Laden ein schönes Buchzeichen aussuchen. Gut. Was aber für Vater? Warum nicht einen Serviettenring - von Lelli gehäkelt? Ich konnte ja dann das hübsche Seidenband durch die Löcher ziehen. Es war alles schrecklich aufregend.

Die letzten Wochen vor Weihnachten wurde mit Hochdruck gearbeitet. Wir Mädchen hatten vereinbart, uns montags und donnerstags am Nachmittag bei verschiedenen Freundinnen von Lelli zu treffen. Alle durften ihre Schwestern mitbringen. Natürlich war das keine Zeit zum Spielen. Trotzdem wurde dabei noch genügend geschwatzt und gekichert. Und um der Sache die richtige Stimmung zu geben, sangen wir immer wieder Weihnachtslieder. Auffallend an diesen Nachmittagen war, daß es keinen Streit gab, nicht einmal unter den älteren Mädchen, sicher wegen des Besuches von Knecht Ruprecht! Und alle freuten wir uns über die schönen roten Weihnachtsäpfel, die wir überall in einer Schale mitten auf dem Tisch vorfanden. Sie schmeckten immer besonders gut.

Der einundzwanzigste Dezember. Ein wichtiger Tag für uns alle. Erster Ferientag für die Schulkinder. Tags zuvor hatte man mit zitterndem Herzen den Eltern das Schulzeugnis präsentiert. Nun war es überstanden, und jeder konnte wieder ruhig schlafen. Überdies war dieser erste Ferientag natürlich der kürzeste Tag des Jahres. Und so durften wir aus zweierlei Gründen eine Stunde später frühstücken. Es war so behaglich, sich noch eine Stunde länger im Bett wälzen zu dürfen.

Da der einundzwanzigste Dezember obendrein noch mein Geburtstag war, fand ich die Nacht immer besonders lang. Ich wußte, auf dem Stuhl dort wartete etwas Besonderes auf mich, das ich aber weder sehen noch fühlen konnte. Das winzige Benzinlicht reichte zu genauer Inaugenscheinnahme nicht aus. Dabei war es jedes Jahr das gleiche: eine Tafel Schokolade von Lelli und den Pfefferkuchenmann von den Eltern. Das alles hatte man mir heimlich irgendwann auf den Stuhl gelegt. Oft wachte ich nachts auf und überlegte mir, wie wohl dieses Jahr der Pfefferkuchenmann aussähe und ob er auch so süß wie im Vorjahr sei. Endlich Dämmerlicht! Herrlich! Da lag er. Zuerst einmal vorsichtig angeleckt. Ja, es war Knecht Ruprecht, ganz in Rot gekleidet, mit schönen weißen Zuckertressen über dem Mantel. Aber an welcher Stelle sollte ich ihn bloß anbeißen? Immer wieder entschied ich mich für das rechte Bein. Dann dieselbe Angst, wenn ich an den Hals kam und schließlich Knecht Ruprechts Kopf in der Hand hielt. Das beschäftigte mich den ganzen Tag. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Ob er wohl sehr böse wäre, wenn ich das äße, was da hinter seinem Papiergesicht steckte?

Während wir alle am Abend, immer noch der einundzwanzigste Dezember, den Weihnachtsbaum schmückten, ertönte plötzlich ein mächtiges Klopfen und Poltern an der Tür. Es war Knecht Ruprecht mit langem weißen Bart und knallroten Backen - genau wie unsere Äpfel. Ganz in Rot wie der Pfefferkuchenmann, einen großen braunen Sack über der Schulter und in der Hand einen Besen. Während er uns der Reihe nach begrüßte, fragte er mich, ob ich das Jahr über auch ein artiges Kind gewesen sei. Ein Blick auf seinen Kopf - ich bekam kein Wort heraus. Der Besen aber ließ mich leise nicken, wobei ich furchtbar zitterte. Knecht Ruprecht schien es gar nicht zu merken. Mit dröhnendem Lachen öffnete er den braunen Sack, und heraus purzelten Äpfel, Walnüsse und allerlei Süßigkeiten.

Während dieses Besuches war das Christbaumschmücken zum Erliegen gekommen, anschließend ging es aber um so schneller weiter. Dieses Jahr hatten die Jungen mit dem Baum besonderes Glück gehabt, denn sie schleppten ein Exemplar nach Hause, das bis zur Decke reichte. Seine Zweige waren so ebenmäßig gewachsen, daß das Christkind sich nichts Schöneres wünschen konnte, als hoch oben auf dem Baum zu stehen und sich an den blauen, grünen, roten und weißen Wachslichtern auf ihren silbernen und goldenen Tellerchen zu erfreuen. In zwei großen Schachteln, die sorgfältig mit Watte ausgelegt waren, gab es glitzernde Kugeln in allen Farben. Sorgfältig befestigten wir diese herrlichen Christbaumkugeln mit einem dünnen Draht an den Zweigen. Jedes Körbchen aus Gold- oder Silberpapier mußte mit einer Haselnuß gefüllt werden. Dann kamen die Süßigkeiten, die polierten Äpfel und die vergoldeten und versilberten Walnüsse an den Baum. Die Weihnachtsbrezeln und Weihnachtsküchel wurden strategisch günstig verteilt - ungefähr in der Mitte des Baumes. Trotz aller Geschäftigkeit wurde von den leckeren Dingen immer eine Kostprobe genommen, es wurde genascht.

Am nächsten Tag gab es wiederum eine Überraschung. Vater gab jedem von uns Geld für den Weihnachtsmarkt. Wir brauchten nicht weit zu laufen, der Weihnachtsmarkt war ja am Ring, also vor unserem Haus. Die kleine Plattform, so wirkte der Ring von oben, hatte jetzt bereits eine weiche Schneedecke, und die Häuser schienen einen eisigen Blick auf die Spielkastenstadt zu ihren Füßen zu werfen. Kein Wunder. Sie kamen sich ja sehr erhaben vor, hatten sie doch schon Jahrhunderte dort gestanden.

Kaufen wollten wir an diesem Vormittag noch nichts, nur inspizieren: Am Nachmittag würde es viel aufregender sein. Es war ein kalter, doch sonniger Morgen, und die Männer und Frauen in ihren Buden wärmten sich an großen Emailkaffeekannen die Hände, wenn sie nicht gerade etwas verkauften. Am Nachmittag waren die Kaffeekannen verschwunden, dafür gab es einen Höllenlärm. Kinder probierten ihre Trompeten und Mundharmonikas aus. Blaue, gelbe, grüne und rote Gummischweinchen wurden aufgeblasen und gaben dabei so herrlich quietschende Töne von sich.

Bei Einbruch der Dunkelheit bot unser Weihnachtsmarkt in Lüben ein ganz anderes Bild. Die brennenden Petroleumlampen machten es in den Buden und den Budenstraßen direkt gemütlich, aber auch geheimnisvoll. Überall glitzerte es. Dazu die wunderschönen Papierclowns, die da rund um das dämmerige Licht der Hängelampen baumelten und die lustigsten Schatten gegen die Budenwände warfen. Jeder von uns hatte natürlich längst eine Liegnitzer Bombe aus der Müller-Bude erstanden und - verzehrt. Mir selbst blieben noch ein paar Pfennige übrig. Ein Clown wäre das richtige! Vater und Mutter würden doch sicherlich gern einmal sehen, wie er seine Arme und Beine bewegte, sobald ich an der Schnur zog.

So amüsierten wir uns den ganzen Tag auf dem Weihnachtsmarkt. Währenddessen herrschte daheim fieberhafte Tätigkeit. Damit zum Weihnachtsfest ja alles sauber wäre, hatte Mutter eine Reinemachefrau bestellt, die unserer Bertha auch beim Waschen half. Zwischendurch wurde gebacken, damit der Teig zur vereinbarten Zeit beim Bäcker war, der dann das Backen übernahm. Immer handelte es sich um Stollen und Napfkuchen, alle mit Rosinen und Mandeln gefüllt. Nie fehlte dabei ein echter schlesischer Mohnkuchen.

Nur noch zwei Tage bis zum Heiligen Abend. Die Eltern bekamen wir kaum noch zu Gesicht, nicht besser ging es uns mit den Spielkameraden aus der Nachbarschaft. Es schien, als wollte keiner mehr das Haus verlassen, nicht einmal für eine richtige Schneeballschlacht. Es ereignete sich doch so viel hinter verschlossenen Türen. Mutter wußte nur zu genau Bescheid, denn die Schlüssellöcher waren immer zugestopft. Und so blieb nichts weiter übrig, als ruhig im Bett zu liegen und die Ohren zu spitzen.

Heiliger Abend. In der Nacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierundzwanzigsten Dezember hatte es ununterbrochen geschneit, und doch erschien uns jetzt die Zeit nicht so endlos wie am Vortage, wußten wir doch, daß Vater den Laden um vier Uhr schloß und die Eltern alles bereit haben würden, wenn wir von der Christmesse zurückkämen. Mutter hatte uns versprochen, daß die Kerzen am Weihnachtsbaum erst brennen würden, wenn es ganz finster sei. Und es war ja fast dunkel, als wir um vier Uhr zur Kirche gingen. Jedes Kind brachte zum Gottesdienst eine gelbe Wachskerze mit, die dort angezündet wurde, während wir die schönen alten Lieder sangen und der Weihnachtsgeschichte lauschten. Zwischendurch mußten wir immer wieder den Docht der Kerze im Auge behalten, damit die Flamme ja nicht zu flackern anfing. Denn die Kerzen waren in der Christmesse die einzige Beleuchtung im Gotteshaus. Um fünf Uhr stürmten wir förmlich nach Hause. Die Straßen waren fast leer. Verabredungsgemäß saßen wir mit unserer Bertha im stockfinsteren Wohnzimmer, bis das Silberglöckchen ertönen würde, das Signal des Weihnachtsengels. Keiner wagte zu atmen aus Furcht, man könnte den Klang des feinen Silberglöckchens überhören. Endlich! Bingbing, bing-bing! Unsichtbare Hände hatten die große Schiebetür geöffnet. Da standen die Eltern. "Nun wollen wir uns erst einmal alle die Hände reichen und unter dem Weihnachtsbaum ,Stille Nacht, heilige Nacht" singen. Der alte Salon schien nicht mehr zu existieren, nur noch der Weihnachtsbaum mit den flimmernden Lichtern rund um das Christkind. Da stand es hoch oben, seine kleinen Hände segnend in die Dunkelheit des Raumes ausgestreckt. Ein rosiger Schimmer lag auf jedem Gesicht, während wir um den Baum standen und sangen.

Dann ging's an das Beschauen und Bestaunen der Geschenke, die alle liebevoll auf besonderen weißgedeckten Tischen aufgebaut waren. Zuerst einmal die Bunten Teller. Ein Blick - und sofort die Nüsse, Äpfel, Bonbons, Knackmandeln und Marzipanbrezeln gezählt. Dann erst nahm man sich Zeit, die anderen Geschenke sorgfältig anzusehen. Ein Kamel mit rotem Sattel, goldverbrämt, für mich! Das Marzipanschweinchen, ein Liederbuch - und einen Tornister mit Schiefertafel und Griffel und kleinem Schwamm zu meinem ersten Schultag nach Ostern! Unser übliches Weihnachtsmahl, Karpfen mit Polnischer Soße, genossen alle mit großem Appetit. Trotzdem waren wir Kinder nicht ganz bei der Sache, bis wir endlich wieder zurück ins Weihnachtszimmer durften. "Warum probieren wir nicht mal zusammen ein neues Spiel aus?" Mutter gab den Anstoß mit ihrer rhetorischen Frage. "Aber mit welchem?" "Na, fangen wir doch mit dem Gänsespiel an." Selbst Vater beteiligte sich an diesem Gänsewettrennen. Natürlich waren auch Preise ausgesetzt. Der Sieger durfte sich eine Praline aus Mutters Pralinenschachtel aussuchen, zweiter und dritter Preis waren Fruchtbonbons - ein großer und ein kleiner. Nach dem aufregenden Gänsespiel meinten Vater und Mutter, daß es wohl an der Zeit zum Schlafengehen wäre. Zumal wir ja am Heiligen Abend eine Extrastunde bekommen hätten. Jeder durfte noch ein Stück vom Bunten Teller essen, dann schnell die Zähne geputzt und ab ins Bett.

Erster Weihnachtsfeiertag. Wir wachten sehr früh auf, nach einer mehr oder weniger ruhigen Nacht. Wir wollten doch wissen, ob noch alles da sei und wie es wohl am Tage aussähe. Da es damals noch kein elektrisches Licht gab, waren wir neugierigen Kinder am frühen Morgen auf das spärliche Tageslicht eines fünfundzwanzigsten Dezember angewiesen. Aber es genügte, um flugs alles anzuschauen und wieder ins Bett zu flitzen. Jetzt konnten wir beruhigt weiterschlafen, bis uns Mutter zu einem Festtagsfrühstück weckte: heiße Schokolade zum Christstollen.

Über Nacht hatte es draußen aufgeklart, wir konnten also unseren neuesten Weihnachtsstaat zur Kirche tragen: Mutter ihren schönen Kapotthut mit kleinen Straußenfedern, Lelli und ich die karierten Tellermützen mit einer Bommel in der Mitte und unsere neuen Haarbänder in dem langen Sonntagshaar, Vater und die Jungen ihre neuen Seidenkrawatten, die gar nicht so einfach zu binden waren. Und so drehte sich unser Haus förmlich im Kreis vor dem riesigen Wandspiegel im Korridor. Es gab so viel herzurichten, daß die Familie tatsächlich fünf Minuten zu spät zum Gottesdienst in die so nahe gelegene Kirche kam. Diesmal schien es Vater nichts auszumachen. Nach dem Gottesdienst brannten wir Kinder darauf, Liebespaare Arm in Arm zu entdecken, die sich am Heiligen Abend unterm Weihnachtsbaum verlobt hatten. Selbst Vater und Mutter schienen interessiert. Daheim angekommen, freute ich mich, auf meinem Bunten Teller noch alle Stücke wiederzufinden. Nur eine kleine Haselnuß langte ich mir, damit mir durch zuviel Süßigkeiten bloß nicht der Appetit auf Gänsebraten mit Rotkohl und Kartoffelklößen verdorben würde.

"Wie wär's mit einem ausgiebigen Verdauungsspaziergang?" fragte Vater. Nach einem solchen Essen willigten wir nur zu gern in seinen Vorschlag ein. "Also, dann am Alten Friedhof vorbei hinauf zum Kalvarienberg!" Dort, auf dem Alten Friedhof, waren die Familiengräber mit ihren Steinkreuzen, und jedes Grab hatte jetzt im Winter einen schneebedeckten Kranz. Alles lag so friedlich. Sobald wir aber auf die offene Chaussee kamen, fing der große Spaß an. Aus der Ferne, vor uns und hinter uns, hörten wir auf der Landstraße das lustige Geklingel von Schlittenglocken, und ehe wir's uns versahen, war das herrlichste Märchenbild neben uns - und auch schon wieder verschwunden.

Die Kuppe des Kalvarienberges war erreicht, der einzige Berg in Lübens Umgebung. Vater hatte jedem von uns eine Tasse Schokolade und ein Stück Torte versprochen. Doch war es an einem solchen Nachmittag, selbst im Winter, nicht einfach, im Restaurant hoch oben einen freien Tisch zu finden. Noch dazu für uns sechs. Zu Fuß und mit dem Pferdeschlitten waren zu viele Leute hier heraufgepilgert. In der Ferne konnten wir unsere kleine Stadt wunderbar in der leicht welligen Landschaft liegen sehen: mit dem alten Kirchturm und dem Rathausturm in der Mitte. Jeder fühlte sich hier oben in der gemütlichen Gasthofstube mit dem warmen Kachelofen wohl und behaglich. Vater schien es so zu genießen, daß er sich gar eine Zigarre ansteckte, ein höchst seltenes Vergnügen bei ihm.

Trotzdem: Nach einer solchen Winterreise war es am schönsten, wieder zu Hause zu sein. Wir wußten, jetzt warteten die echt schlesischen Mohnklößel auf uns. Das war eine Mohnspeise, die wir nach einem leichten Abendbrot serviert bekamen, während wir mit den Eltern alle möglichen Spiele ausprobierten - bis die Uhr neun schlug! Da stand Vater mit den Worten auf: "Morgen ist zwar der zweite Feiertag, und da kann alles schön ausklingen. Laßt uns heute noch einmal unter dem Baum stehen und Gott danken, daß er uns in einer stillen, heiligen Nacht seinen Sohn bescherte."

Ein Weihnachtsfest, das ich als Kind erlebte, das sich mir aber fest einprägte. Es mag armselig und höchst bescheiden für die heutige Kinderwelt erscheinen, es entsprach aber gerade deshalb um soviel mehr dem Sinn dieses schönsten christlichen Festes.

Elizabeth May im Jahr 1966 vor ihrem Haus in Denver

Elizabeth May im Jahr 1966 vor ihrem Haus in Denver

1 Lelli, die Tochter aus Mutters erster Ehe, war Helene Glotz verheiratete Bertling, die 1970 in Berlin-Zehlendorf starb. Walter und Konrad May waren die Söhne von Elizabeths Vater aus erster Ehe. Else-Elizabeth empfand sich in dieser Patchwork-family als "Brücke".