Hans-Werner Jänsch: "80 Jahre Lübener Gymnasium"
Schülererinnerungen von Eva Munderloh














VDA und Schule
von Eva Munderloh (1910-2005)

Alle Schülerinnen und Schüler, die die Schule vor 1933 besuchten, bestätigen: Eine besondere Rolle spielte der VDA (seit 1933 Volksbund für das Deutschtum im Ausland) an der der Schule. Offenbar auf allerhöchste Weisung wurde diese völkische Vereinigung damals von den Schulen im ganzen Land unterstützt und gefördert. In Lüben jedenfalls war er viele Jahre lang der Schulverein schlechthin.

Die VDA-Feste waren eine Attraktion für ganz Lüben und Umgebung, ja bis hin nach Liegnitz. Kein Wunder bei der Stimmung, die dort herrschte. Sie war nicht zuletzt dem von René Bilk geleiteten Schülertanzorchester zu verdanken. Heute würde man von einer Band sprechen. Er selbst hatte sich einmal einen mathematischen Idioten genannt, aber von Musik verstand er wirklich etwas. Seine Kapelle hatte Schmiß, spielte die modernsten Schlager und auch von ihm selbst komponierte Sachen. Sie spielte unermüdlich. Es gab vielerlei Darbietungen, aber sie beschränkten sich nicht nur auf die Bühne, nein, in irgend einer Ecke des Saales oder mitten im Tanzgewimmel entstand plötzlich eine Unruhe, es wurden Stimmen laut und schon wurde man Zeuge eines überraschenden kleinen Auftritts.

Kein stundenlanges Sitzen im dünnen Kleidchen im kühlen Saal vor einem auf der Bühne sich langatmig hinziehenden Theaterstück. Nein, man betrat den Saal und schon empfing einen Musik, Helle und Fröhlichkeit. Die Feste standen immer unter einem bestimmten Motto. Obwohl die Darbietungen meistens anspruchslos waren, war alles so aufgezogen, daß niemals die Stimmung nachließ.

Ich besinne mich besonders an zwei Feste: "VDA auf hoher See" und "VDA im Jahr 2001". Bei "VDA auf hoher See" war die Leitmusik des Abends: "Du schöne Blume von Hawai". Eine der Attraktionen war die Äquatortaufe. Günther Dodt im Matrosenanzug wurde plötzlich auf offener Bühne, trotz heftiger Gegenwehr, überwältigt und in eine mit Wasser gefüllte Badewanne geworfen. Als er aus der Wanne stieg, welch erbarmungwürdiger Anblick. Na, Sie können sich ja denken: Die Schadenfreude...

Bei "VDA im Jahre 2001" tanzten die Schwestern Gottschalk zu heißer, von René komponierter Musik, in für damalige Zeit pikanten Minikleidchen. Einzige Entschuldigung: Fransen am Saum. Aber beim Tanz sah man, na ja, recht viel Bein. Oh!

Eine Bude mit Raritäten aus den 1920er Jahren (man vergesse nicht, das Fest spielte im Jahre 2001!) war aufgebaut. Hauptattraktion in einem Einweckglas ein Pferdeapfel, Exkremente eines längst ausgestorbenen Tieres. Alles wurde in marktschreierischem Ton erklärt und vor der Bude sang ein Bänkelsänger seine schnulzigen Lieder. Ich habe manche Tanzfeste in Vereinen erlebt, aber mit den VDA-Festen konnten die sich nicht im geringsten messen.


Einige Begebenheiten
von Eva Munderloh (1910-2005)

Eines Tages nach einer unerquicklichen Stunde, einer unserer beliebtesten Mitschüler hatte einen Tadel im Klassenbuch erhalten, blieb ich noch etwas länger in der Klasse, weil es draußen kalt war. Einige noch anwesende Jungen taten sehr geheimnisvoll. Aufgeregt pischbernd wagten sie es schließlich, die entsprechende Seite aus dem Klassenbuch "herauszuprojizieren", wie sie es nannten. Das war natürlich eine große Sache und die Aufregung entsprechend. Am Nachmittag nahm mein Vater mich vor und fragte: "Sag' mal Eva, was war heute in Eurer Klasse los? Da war so eine Unruhe." Ich fragte zurück: "Fragst du mich als Vater oder als Lehrer?" "Natürlich als Vater," antwortete er. "Ja," fragte ich darauf, "und wenn es der Vater dem Lehrer sagt?"

Es geschah vor meiner Zeit, als unser Vater gerade in einer der oberen Klassen unterrichtete, daß einer seiner Lieblingsschüler aufstand und sagte: "Herr Studienrat, unter meiner Bank ist es naß." Darauf unser Vater: "Aber Schäfer, von Ihnen hätte ich das nicht gedacht."

Familie von Heinrich Munderloh, 1965

Die Familie von Heinrich Munderloh (1877-1945) im Jahr 1965.
Von links: Elisabeth Keil geb. Munderloh, Dr. Wittekopf, Eva Munderloh, Dr. Heinz Munderloh, Helene Munderloh, Dr. med. Felix Munderloh

Unser Vater erzählte uns, daß man beim Ausschachten für die Grundmauern des Gymnasiums, auf einen Friedhof stieß. Dabei soll ein gläserner Sarg mit einer kostbar gekleideten Frau ans Tageslicht gekommen sein. Als man den Deckel aufhob, soll alles zu Staub zerfallen sein.

Um ihr Deutsch zu vervollkommnen, weil sie dann die Universität besuchen wollten, kamen mehrmals Türken an unsere Anstalt. Unser Vater gab einem von ihnen Nachhilfeunterricht. Ich war neugierig und lauschte an der Herrenzimmertür. Da hörte ich Folgendes:
Vater akzentuiert: "Ich falle hin".
Der Türke konsterniert: "Iech fallä hien". Dann: "Iech fallä, iech verstehän, - aber was ist - hien?"
Alle Türken, die kamen, zeigten sich friedfertig und höflich. Das reizte unseren Klassensprecher Erich, und weil ihn der Hafer stach, ergriff er in der Pause den Schubkarren, eigentlich eine Art Tafelwagen, der zufällig im Korridor stand und fuhr dem neu angekommenen Türken damit in die Kniekehlen und schaufelte ihn quasi damit auf. Da war er aber an den Falschen geraten. Achmed, ein Kurde war wie der Wind auf den Beinen und drehte den Spieß um. Ehe er es sich versah, lag Erich auf dem Karren, und Achmed hatte die Lacher auf seiner Seite.

In den Ferien wurde die Schule gründlich gereinigt und der Fußboden geölt. Damals, zur Zeit der Kreppgummisohlen, war das nicht ganz ungefährlich. In Mathematik rief Studienrat Dr. Krusche, genannt Zassel, eine Schülerin auf. Sie war zwar flink an Geist, aber körperlich etwas schwerfällig. Lässig erhob sie sich, lässig lehnte sie an der Wand, aber ehe sie ein Wort sagen konnte, rutschte sie ab und verschwand mit Gepolter unter der Bank. In die darauffolgende Stille hinein sagte Zassel trocken:"Das war aber ein schweres Geschütz!" Blutrot tauchte Inge unter der Bank wieder auf. Die Klasse war entzückt.

Unser Vater gab Englischunterricht, als sich plötzlich ein furchtbarer Gestank ausbreitete. "Stinkbomben", dachte er, "na wartet!" Er sagte nichts, und der Gestank nahm zu. Es war kaum auszuhalten, doch er litt schweigend. Allmählich wurde die Klasse unruhig und ein Schüler fragte: "Herr Studienrat, darf ich das Fenster aufmachen, die Luft hier ist sehr schlecht? " "So," sagte unser Vater erstaunt, "ich rieche nichts, ich habe nämlich Schnupfen. Das Fenster dürfen wir auf keinen Fall aufmachen. Ich will mir doch nicht den Tod holen." So litten alle bis zum Ende der Stunde. Stinkbomben hat in den Unterrichtsstunden bei unserem Vater keiner mehr fallen lassen.

Studienrat Dr. Treblin, kurz Trebbel, war ein Lehrer besonderer Art. Er trug keinen Stehkragen, keine Röhrenhosen, weder Weste noch Schlips. Er gab sich nicht würdig, sondern natürlich und temperamentvoll, war nicht Autorität, sondern Kamerad. In seinem Beruf ging er auf. Sein Vortrag war voller Schwung und Begeisterung. Dann sah er nicht, was um ihn herum vorging, oder wollte es nicht hören und nicht sehen. Die Schüler nützten das gehörig aus. Sie plauderten, flirteten oder verzehrten einfach ihr Frühstück. Er merkte nichts, bis sein Blick auf Heinz Munderloh fiel, der mit ausgestreckten Beinen in der Bank lümmelnd mit vollem Munde kaute. Das verschlug Trebbel die Sprache. Er nahm seinen Stuhl auf und indem er ihn zu Boden schmetterte, schrie er:"Da sitzt der Prolet und frißt!"

Oberlehrer Zingel war allgemein beliebt. Er war warmherzig und seine kleinen Schülerinnen nannte er "meine Rosels". Das hinderte aber die Klasse nicht daran, ihm das Leben schwerzumachen. Meistens stand er auf dem Klaviersessel und beugte sich ab und zu herab, um ein paar Takte anzuschlagen. Dann erhob er sich wieder, um heftig mit dem Taktstock in der Luft herumzurudern, wobei sein Röllchen (gestärkte lose Manschette) aus dem Ärmel hervorschoß und lustig um den Taktstock rotierte. Das Gebiß klapperte, er schnappte im letzten Moment danach, um es nicht zu verlieren. Doch einmal fiel es zu Boden. Da forderte er ein Fräulein "von" auf (ich weiß ihren Namen nicht mehr), es ihm zu reichen. Die Klasse erstarrte. Was würde sie tun? Sie aber ging ohne eine Miene zu verziehen zum Papierkorb, suchte sorgfältig ein sauberes Stückchen Papier heraus, hob das Gebiß vorsichtig auf und übergab es mit ernstem Gesicht Herrn Zingel. Ich mußte denken, was gute Erziehung doch ausmacht. Oder kam mir der Gedanke erst in späteren Jahren? Einmal war die Klasse besonders unruhig. Als es zur Pause klingelte, sah ich wie Herr Zingel sich den Schweiß abwischte. Er sah sehr müde, ja erschöpft, aus. Da nahm ich mir ein Herz und sagte zu ihm: "Bitte, seien Sie uns doch nicht böse. Wir wollten Sie nicht ärgern. Wir waren nur sehr übermütig." Da erstrahlte sein ganzes Gesicht und er antwortete mir: "Ich weiß, ich weiß, mein Kind."

Vor der Zeichenstunde kam eine herrliche Keilerei in Gang. Mit Linealen wurde gefochten wie mit Schwertern. Es ging über Tische und Bänke. Gegenstände flogen durch die Luft und leider auch ein Tintenfaß. Alles war vor Schrecken starr. Gleich mußte Herr Halfpaap, genannt Papen, kommen. Im Nu waren alle Kräfte mobilisiert. Ein heftiger Andrang zum Papierkorb setzte ein. Schnell, Papier zum Aufputzen der Tinte! Sogar der Kreidelappen für die Tafel mußte herhalten. Es klingelte, und noch immer war der Fleck zu sehen. Nun begann das Radieren, das Rubbeln und Schrubben mit den Kreppschuhen. Es sah aus wie ein grotesker Tanz. Die Tränen liefen uns vor Lachen übers Gesicht. Als Papen eintrat, war die Arbeit getan. Alles war erschöpft, die einen vom Lachen, die anderen von der Arbeit.

Wir hatten einen Neuen in der Klasse. Kein Wunder, daß er Herrn Dr. Krusche nur unter dem Spitznamen "Zassel" kannte. So ging er einmal zum Lehrerzimmer und fragte, ob er Studienrat Zassel sprechen könnte. Da lachte der öffnende Herr und sagte: "Kollege Zassel, jemand möchte Sie sprechen."

Einmal kam Mausi, meine jüngste Schwester, in unsere Klasse. Sie war noch sehr klein und zierlich und hatte blonde Löckchen. Ein paar übermütige Jungen bemächtigten sich ihrer, setzten sie auf die für die Landkarten bestimmte "Schaukel" und zogen sie trotz ihres heftigen Protestes bis unter die Decke. Unschuldsgesichter empfingen den Lehrer, als er in die Klasse trat. Doch es dauerte nicht lange, da gluckste einer und dann fingen alle an zu lachen, bis der verdutzte Lehrer die Bescherung sah. Sich das Lachen verbeißend, befahl er, die Kleine herunterzuholen und sie in ihre Klasse zu begleiten, damit sie keinen Ärger mit dem Klassenlehrer bekäme.

Studienrat Mosel hat lange vor unserer Zeit im Gymnasium unterrichtet. Er wohnte ebenso wie Dr. Krusche mit uns im gleichem Haus, nämlich Bahnhofstraße 16. Er war lang und dünn wie eine Bohnenstange und langsam und bedächtig war seine Sprache. Als die Tage des Schützenfestes wieder einmal gekommen waren, nahm er sein Töchterchen bei der Hand und ging in Begleitung des Dienstmädchens, dem Ereignis beizuwohnen. Und plötzlich mitten in die Stille hinein - ein Schütze zielte gerade sorgfältig - sagte Herr Mosel mit lauter und deutlicher Stimme: "Emma, hat die Barbara Höschen an?"

Manche Lehrer waren nur vorübergehend an unserer Schule tätig, z. B. Herr Brockschmidt. Er gab sich nicht sehr freundlich und die Schüler ärgerten ihn gern, indem sie mit Papierkugeln nach ihm schossen. Er beschwerte sich beim Direktor. Der kam mit strenger Miene in die Klasse und sagte: "Ihr sollt doch nicht immer mit Felsbröckern nach Herrn Brockschmidt werfen." Sagte es, drehte sich um und ging.

Wir sollten einen Aufsatz schreiben. Es war schon sehr kalt, aber noch nicht geheizt. Da wurde Herr Siebenhaar, Sevenhair genannt, gerufen. Er sollte den Gasofen anheizen. Gespannt schauten wir zu, wie er da am Ofen herumfummelte, der wollte und wollte nicht brennen. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Zwei schwere gußeiserne Teile flogen in Richtung Katheder, wo Herr Studienrat Schumann stand und vor Schreck einen komischen Hupfer machte. Er kam glücklich davon. Nichts war ihm geschehen, nur sein Selbstbewußtsein schien etwas erschüttert, als die Klasse in befreiendes Lachen ausbrach.

Abschnitt 1: Vorwort Abschnitt 2: Die Chronik Abschnitt 3: Aus dem Schulalltag Abschnitt 4: Die Lehrkräfte Abschnitt 5: Die Schüler   Abschnitt 7: Fahrschülererinnerungen von Gustav Fechner, Raudten Abschnitt 8: Erinnerungen von Hans-Joachim Rudolph, Ossig Abschnitt 9: Erinnerungen von Erich Archner und Rudolf Behnisch Abschnitt 10: Erinnerungen des Fahrschülers Leo Beyl, Raudten