Hans-Werner Jänsch: "80 Jahre Lübener Gymnasium"
Fahrschülererinnerungen von Gustav Fechner, Raudten














Fahrschülereskapaden
von Gustav Fechner (* 1925), Raudten

Meine Schulzeit als Raudtener Fahrschüler am Reform-Realgymnasium (später Oberschule genannt) zu Lüben in Niederschlesien begann nach Ostern 1936. Vorausgegangen war eine etwa vierstündige Prüfung und Beratung. Zur Belohnung für das Bestehen der Prüfung gab es im Café Neumann Torte und Schlagsahne. Da einmal in der Woche am Nachmittag Spielen angesetzt war, zuerst am Donnerstag, später am Freitag, erbot sich die Gattin des Raiffeisendirektors Zucker, die ebenfalls mit Sprößling Franz die Prüfung, feierte, mich jeweils an diesem Tag zu Mittag als Gast aufzunehmen. Zuckers waren katholisch, ich evangelisch; doch man war tolerant und so wurde ich dort über Jahre wie ein Sohn köstlich bewirtet, was mein Vater durch gelegentliches Mitsenden eines Wildhasen etwas ausglich.

Der Zug ging von Raudten über Groß Rinnersdorf und Koslitz nach Lüben. Fahrstrecke etwa 15 km, Fahrzeit etwa 25 Minuten. Im ersten Sommerquartal 1936 fuhr der Zug um 5 Uhr ab und wir mußten schon um 4 Uhr aufstehen. Von Raudten fuhren damals an älteren Schülern mit: Georg Struzyna, Jahrgang 1920, heute Prof. und Dipl. Ing. in den USA; Adolf Richter aus der Ziegelei zwischen Raudten und Mlitsch, Klaus Oltersdorf, der Sohn des beliebten Raudtener Arztes; Heinrich von Kleist (gefallen im Frühjahr 1945 in Ostpreußen) ; Elisabeth von Kleist (genannt Ihme). In meiner Klasse war kein weiterer Raudtener Schüler.

In Groß Rinnersdorf stiegen die Geschwister Gebhardt zu: Ilse, die 1938 das Abitur ablegte; Günter, genannt Suhsch, der bei der Invasion fiel und Christoph, genannt Bobl. Alles Kinder des Gutsbesitzers Gebhardt aus Klein Rinnersdorf. Dieter Gebhardt, der Älteste, war beim Rattenschießen im Schweinestall tödlich verunglückt.

In Koslitz wurden die Milchkannen eingeladen. Als die letzte Kanne an der Reihe war, kam gemessenen Schrittes Reinhard Freiherr von Schmidtfeld heran und dann konnte der Zug abfahren. Reinhard trug über Jahre einen Pepita-Anzug und wurde die ganze Schulzeit "der Baron" genannt. Er ging mit der 18. schlesischen Inf. Div. im Juli 1944 beim Zusammenbruch der Mittelfront zugrunde. Auch an Ewald Utter, Sohn des Lehrers Utter aus Mlitsch kann ich mich erinnern, etwa Jahrgang 1920, der nach einem "on dit" als Ritterkreuzträger am Ilmensee fiel.

Es herrschte in den ersten Jahren eine gewisse Hierarchie unter den Fahrschülern. Die Kleinen hatten bescheiden zu sein und wurden dafür gut behandelt und beschützt. Besonders mütterlich waren Ilse Gebhardt und Dorchen Schulz, die Tochter des Lehrers aus Koslitz. Von Rinnersdorf kam noch Traute Kranz. Später wurden aus Raudten die Geschwister Inge und Helga Zischkale, Inge Oltersdorf und Lonny (Betty) von Kleist eingeschult, sowie Johannes Schulz aus Koslitz, der ein guter Geigenspieler war, aber leider einen Arm im Krieg verlor.

Vorn in der Mitte Gustav Fechner bei einem Treffen der Raudtener in Nassau 1964

Die nachfolgenden "Kleinen" wie, Paeßler Meier, Paeßler None, Exner-Boy, Höhnisch-Gockl Baron von dem Bottlenberg, Fechner Irene und May Karle aus Rinnersdorf, nur um einige zu nennen, wurden unter unsere Fittiche genommen und streng, aber gerecht behandelt. Besonders Höhnisch-Gockl hatte große Anfangsschwierigkeiten mit den etwas älteren Mädchen! Er war im Krieg unser Lieferant von Schokolade und Traubenzucker.

Zur Zeit meiner Einschulung trugen wir noch die hellblauen Tuch-Schülermützen. Wir Fahrschüler waren eine besondere Kaste! Nicht bei allen Reisenden beliebt, da man uns als vorlaut, geräuschvoll, naseweis und lümmelhaft bezeichnete. Aber das waren wohl Vorurteile! Besonders lustig ging es in den früheren "4.-Klasse-Wagen" zu, die für "Reisende mit Traglasten" bestimmt waren. Im letzten Wagen war in der Wand eine Kurbel zum Bremsen eingebaut, die mit einer Klappe verschlossen war und die wir öfter betätigten. Auch Schilder wie "Nicht auf den Boden spucken" und "Nicht aus dem Fenster lehnen" wurden abgeschraubt und fanden Interesse bei den Alumnatsschülern, die sie dort montierten. Sehr beliebt war der Sport des Einschneidens der Riemen, mit welchen die Fenster geöffnet wurden. Man schnitt den Riemen nur an und wartete, ob irgendein Fahrgast beim Öffnen des Fensters plötzlich den Riemen in der Hand hielt und das Gleichgewicht verlor.

Die Monatskarte von Raudten nach Lüben kostete 5,90 RM und wenn man sie vergessen hatte, mußte man versuchen, unter Umgehung der Sperre in den Zug zu gelangen und den kontrollierenden Schaffner nie aus den Augen zu verlieren.

Wir Fahrschüler hatten ein sogenanntes "Fahrschülerzimmer", da wir, bedingt durch ungünstige Zugverbindung, oft lange vor Schulbeginn eintrafen. Schuldiener Siebenhaar" ("Ich und der Herr Direktor haben beschlossen...") war oft boshaft und sperrte nicht auf: Einmal öffneten wir mit einem Dietrich die Außentür und betraten mit höhnischen Gejohle die Schule, was mir beinah das "Consilium abeundi" einbrachte. Im Fahrschülerzimmer schrieben wir oft die Arbeiten der Alumnatsschüler ab, die unter Aufsicht arbeiten mußten, oder wir spielten Karten.

Ganz schlecht angeschrieben waren wir bei Frau Anna Raupach, der Pächterin der Lübener Bahnhofsgaststätte. Dort trafen wir auch noch mit den die "Bimmelbahn" benutzenden "Kotzenauern" zusammen. Wir traten in "Rudeln" auf, verzehrten wenig oder nichts, waren dafür aber um so lauter. Sehr beliebt waren auch das Kartenspielen und "Schiffe-Versenken".

Da die Eisenbahn mitten durch Lüben ging, wurde rechtzeitig die Bahnschranke heruntergekurbelt und Studienassessor Hetwer, der dort wartend stand, traf eine aus dem Zug geworfene Tomate voll. Ich bekam am nächsten Tag einige Backpfeifen, obwohl ich nur grinsend neben dem Meisterschützen gestanden hatte.

Erwähnen möchte ich noch die Geschwister Aka und Much Teichmann aus Brodelwitz und Gerd v. Ulrici, der aus Wiesbaden kam und bei seinen Verwandten von Schweidnitz in Alt Raudten wohnte. Er verließ die Schule, da überaltert, 1942, wurde nach 12 Monaten Leutnant und fiel 4 Wochen später im Osten.

Besonderen Spaß hatten wir mit einem Organisten namens Exner aus Koslitz, der den gleichen Zug zu benutzen pflegte. Er hatte einen riesigen schwarzen Hut auf, einen Kropf und rollende Augen, so daß er oft die Zielscheibe unseres Spottes wurde. Er wollte uns immer verdreschen, doch erwischte er uns nie.

Obwohl wir oft erst um 14 Uhr daheim waren, genossen wir dieses "Fahrschüler-Leben" und hätten mit keinem ortsansässigen Lübener Mitschüler getauscht.

Abschnitt 1: Vorwort Abschnitt 2: Die Chronik Abschnitt 3: Aus dem Schulalltag Abschnitt 4: Die Lehrkräfte Abschnitt 5: Die Schüler Abschnitt 6: Schülererinnerungen von Eva Munderloh   Abschnitt 8: Erinnerungen von Hans-Joachim Rudolph, Ossig Abschnitt 9: Erinnerungen von Erich Archner und Rudolf Behnisch Abschnitt 10: Erinnerungen des Fahrschülers Leo Beyl, Raudten