Hans-Werner Jänsch: "80 Jahre Lübener Gymnasium"
Erinnerungen eines Fahrschülers von Leo Beyl, Raudten














Erinnerungen eines Fahrschülers
von Leo Beyl (1909-1986), Raudten

Leo Beyl (1909-1986)

Ich besuchte während der zwanziger Jahre die Lübener Penne - es war das Reform-Realgymnasium. Die ersten und die letzten Jahre meiner Schulzeit war ich in der Pension von Muttel Zeutschner auf der Kasernenstraße untergebracht. In der dazwischenliegenden Zeit kam ich täglich mit dem Zug von Raudten nach Lüben. Wenn ich jetzt von dieser meiner Fahrschülerzeit erzähle, läßt es sich nicht immer vermeiden, auch einige Begebenheiten zu schildern, die sich innerhalb der Pensionszeit zutrugen, weil sonst einige Geschehnisse unverständlich bleiben.

Meine liebe Mutter nahm mich während der Inflationszeit aus der Pension, weil es ihr sehr schwerfiel, die im rasenden Galopp steigenden Preise aufzubringen, denn am Ende der Inflation war eine Billion nur eine Briefmarke wert. Als es endlich wieder eine stabile Währung gab, war sie auch nicht in der Lage, einen Pensionspreis von 100 bis 110 Mark und ein Schulgeld in Höhe von 21 Mark monatlich ohne weiteres hinzulegen: Dieser Betrag war in der damaligen Zeit sehr viel Geld.

Während die anderen Schulkameraden früh noch lange schlafen konnten, mußte ich während der Schulzeit täglich kurz vor 5 Uhr aufstehen, mich schnell waschen, anziehen und frühstücken. Dann im Trab zum Bahnhof, weil der "Liegnitzer" (der Zug, der über Rinnersdorf, Koslitz, Lüben, Vorderheide, Rüstern nach Liegnitz fuhr) bereits gegen 5:40 Uhr nach Lüben abging. Im Sommer war der Lauf durch die stillen Straßen meines noch schlafenden Heimatstädtchens sehr angenehm, während der anderen Jahreszeiten dagegen weniger, weil die Straßen mäßig beleuchtet waren. Zur Vollmondzeit, auch wenn der Himmelskörper von Wolken verdeckt unsichtbar blieb, war die Beleuchtung ausgeschaltet. Vor 1926, als die Straßen noch nicht die Kleinpflasterdecke aus Strehlener Granit, dem besten Europas, und die mit Platten belegten Bürgersteige hatten, mußte ich in der Dunkelheit sehr darauf achten, daß ich auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen und Bürgersteige nicht stolperte und bei Schnee, Eis und Regen nicht ausrutschte. Außerdem gab es keine geraden Bordsteine, und vor vielen Hauseingängen ragten die Treppenstufen vor der Neugestaltung der Straßen weit auf die Bürgersteige (Trottoir genannt). Ein Sturz in der Dunkelheit war jederzeit möglich. An der Bahnhofssperre war dem Knipser die Schülermonatskarte vorzuweisen. Hatte ich sie vergessen, mußte ich eine Fahrkarte kaufen, die 50 oder 60 Pfg. für eine Fahrt nach Lüben kostete. Für mich bei drei, später fünf Mark Taschengeld im Monat ein sehr hoher Betrag. Eine Schülermonatskarte 4. Klasse kostete nur vier oder fünf Mark. Verraten muß ich schon, daß ich - wenn ich meine Monatskarte nicht bei mir hatte, was allerdings selten vorkam, - mir auf dem Bahnhof Raudten-Stadt keine Fahrkarte kaufte, weil mich die Raudtener Bahner alle gut kannten und auf das Vorzeigen der Karte verzichteten. Mit etwas klopfendem Herzen schlängelte ich mich am Knipserhäuschen vorbei, sauste erleichtert die Treppen der Unterführung hinunter und zum Liegnitzer Bahnsteig wieder hinauf. Wenn der Zug einlief, achtete ich darauf; aus welchem Abteil der Zugschaffner ausstieg, kam er aus einem 4. Klasse-Abteil, ging ich dort hinein, weil ich damit rechnen konnte, daß der Schaffner bis Lüben nicht mehr dort zustieg. Ging das nicht, beobachtete ich auf jedem Bahnhof heimlich, ob er in mein Abteil einsteigen wird, um schnell in der Toilette unbemerkt vor ihm verschwinden zu können.

Die Züge damals hatten nicht nur 1. und 2. Klasse, sondern auch 3. und 4.-Klasse-Wagen. Die Abteile waren nicht zum Durchgehen, sondern jedes war für sich abgeschlossen oder zwei hingen zusammen. Die Sitze der 1. und 2.-Klasse-Wagen waren gepolstert, die der 3. und 4. Klasse nicht. Die 4.-Klasse-Wagen waren für Reisende mit Traglasten gedacht. Deshalb waren diese Abteile nicht schmal, sondern breit und hatten an zwei Seiten je eine Tür mit Fenster und außerdem noch je ein breites Fenster. Auf den Seiten links und rechts von der Tür befanden sich Holzbänke, darüber Bretter zur Kleingepäckablage. In dem großen Freiraum zwischen den Bänken konnte das Großgepäck (Koffer, Körbe u. a.) abgestellt werden oder er diente als Stehplatz. Wenn die Bauern zum Markt fuhren, waren diese Abteile sehr voll. In Lüben angekommen ging es ohne Fahrkarte durch die Sperre. Hier verlangten aber die Knipser, die Karte zu sehen. Einer von ihnen war besonders darauf verpicht, einen der vergeßlichen Tunichtgute zu schnappen. Wir Fahrschüler schlugen ihm aber meistens ein Schnippchen. Wir drängten uns unter die Masse der Aussteiger und ließen uns von der Menge durch die Sperre drücken, während wir zur Täuschung des Knipsers die Schultasche geöffnet in der einen Hand hielten und mit der anderen zwischen den Büchern und Heften aufgeregt nach der nicht vorhandenen Monatskarte suchten.

Schwieriger wurde es bei der Heimfahrt. Wir Fahrschüler blieben deshalb, bis der Zug einlief, hinter den Fenstern des Bahnhofwarteganges und beobachteten noch, aus welchem Abteil der Zugschaffner stieg. Wenn die ersten Fahrgäste an der Sperre anlangten, rasten wir zur Sperre, japsten, als ob wir vor lauter Rennerei keine Luft bekämen und nahmen den Vergeßlichen in die Mitte. Wir Kartenbesitzer fuchtelten aufgeregt mit diesen dem Knipser vor der Nase herum und stürmten wie die wilde Jagd in das voraussichtlich nicht mehr kontrollierte Abteil. Später erschien es mir sicherer, am Schalter in Lüben eine Fahrkarte zu kaufen, jedoch wieder in letzten Minute durch die Sperre zu rasen, ohne die Fahrkarte vorzuzeigen. Gelang der Trick, ich kann mich nicht erinnern, daß je einer von uns erwischt wurde, gaben wir am nächsten Tag die Fahrkarte zurück mit den Worten, daß der Bekannte, für den die Karte gekauft wurde, nicht mitgefahren sei. Wir erhielten das Geld zurück.

Für das Bahnpersonal und die Mitreisenden waren wir nicht immer eine Freude, denn wir waren keine Musterkinder, benahmen uns oft laut und störend, balgten uns und hatten viele Dummheiten im Kopf. Ging das lose Treiben auf dem Bahnsteig los, bevor der Zug einlief, schielten wir zur Wohnung des Bahnhofsvorstehers Rehmie, ob uns dort seine Tochter Erika oder seine Frau zusahen. Wir bildeten uns nämlich ein, sie würde den Vater sofort unterrichten, damit er uns zusammenstaucht.

Die Zugschaffner, die wir alle und die uns alle kannten, hatten auch ihren Kummer mit uns. Sie kamen je nach Temperament mit uns gut oder schlecht aus. Für einen von ihnen waren wir das rote Tuch. Wo er uns schikanieren konnte, tat er es. Wir mieden ihn, soweit das möglich war. Eines Tages hatte er seine Gedanken woanders und rief in Lüben als Station laut "Vorderheide" aus. Für uns ein gefundenes Fressen. Wir äfften ihn sofort nach und pläkten auch auf den anderen Stationen aus den Fenstern "Vorderheide! Vorderheide!" Er rannte nur mit einem roten Kopf herum, sagte aber nichts. Von diesem Tage an hatten wir vor ihm Ruhe.

Je einmal in der Woche fuhr eine Dame aus Groß-Rinnersdorf nach Lüben und benutzte für die Rückreise unseren 14-Uhr-Zug. Über unser Benehmen ärgerte sie sich ständig. Eines Tages trieben wir es in dem Abteil wohl gar zu toll. Sie fauchte uns an: "Die heutige Jugend ist roh und gemein. Zu meiner Zeit war das ganz anders. "Dieser zornige Ausspruch war Wasser auf unsere Mühlen der Frechheit. Als sie in Rinnersdorf ausstieg, schrien wir diesen Ausspruch aus dem Fenster, bis der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Von da ab mied sie uns wie Aussätzige.

Aus Ersparnisgründen wurde der 14-Uhr-Personenzug aus dem Verkehr gezogen. Nun konnten wir erst viel später heimfahren, bis dann meine Mutter bei der Reichsbahn-Direktion durchsetzte, daß ich und auch die anderen Fahrschüler den gegen 14 Uhr in Lüben abfahrenden Güterzug für die Heimfahrt benutzen durften. Diese Fahrten waren für uns besonders interessant, weil wir im Wagen des Zugführers reisten. So bekamen wir persönlichen Kontakt mit den Bahnern und konnten auf jedem Bahnhof die Rangiererei beobachten. Allerdings dauerte die Reise, je nachdem wie oft rangiert werden mußte, eine halbe bis eineinhalb Stunden länger. Als später ein Personenwagen eingeschoben wurde, damit auch andere Reisende mitfahren konnten, war die Fahrt nicht mehr so schön. Das größte Übel der Fahrschulzeit war die viele verlorene Zeit. Gegen 6 Uhr morgens waren wir in Lüben: In der Schule warteten wir bis zum Schulbeginn, im Sommer bis um 7 Uhr, im Winter bis um 8 Uhr. Nach dem Schulende mußten wir bis um 14 Uhr bzw. während der Güterzugzeit bis 14:30 Uhr und länger herumsitzen. Daheim traf ich erst gegen 15 Uhr und später ein. Nach dem späten Mittagessen wollte ich mich auch nicht gleich auf die Schularbeiten stürzen und schob sie hinaus. Eine gründliche Arbeit war nicht möglich, höchstens an den Sonntagen. Um 21 Uhr mußte ich bereits zu Bett gehen, damit ich am nächsten Morgen einigermaßen ausgeschlafen war. Ich verschob manche Schularbeit auf den nächsten Tag früh in der Schule. Viel machte ich da auch nicht, weil das Schwätzen oder Spielen mit den anderen Fahrschülern angenehmer war. Obwohl ich gern in die Schule ging, hatte ich aus den eben aufgeführten Schwierigkeiten eine große Abneigung gegen Schularbeiten und wegen der mangelhaften Vorbereitung gegen das Abfragen der gestellten Aufgaben oder das Vorweisen der schriftlichen Hausarbeiten. Noch heute beneide ich die Schüler, die Schulen besuchen können, in denen Hausaufgaben zu stellen verpönt ist.

Mir blieb halt nichts anderes übrig als mich recht und schlecht durchzumogeln. Bei schriftlichen Hausaufgaben war das schwierig. Meine Schutzbehauptung, ich hätte nicht begriffen, zog höchstens ein- oder zweimal. Beim mündlichen Abfragen bluffte ich mit einem sicheren Verhalten. Stellte der Lehrer eine Frage, sah ich ihn unbekümmert an und meldete mich eifrig, weil jeder Lehrer die Schüler drannimmt, die sich nicht melden oder ängstlich wirken. Kam ich doch dran, nützte mir ein Drumherumreden oder eine Ausrede allerdings wenig und eine Vier oder Fünf in seinem Notizbuch war fällig. (Vier war mangelhaft, fünf ungenügend.) Konnte ich die Frage beantworten, sah ich den Pauker ängstlich an und erreichte meistens, drangenommen zu werden.

Die ersten Jahre waren wir nicht allzu viele Fahrschüler. Wir verteilten uns auch auf mehrere Klassen. Anfangs war ich der einzige Raudtener. In Koslitz stiegen der Försterssohn Helmut Schulz und der Lehrerssohn Erich Fitzner, später noch sein Bruder Ernst zu. Aus Mlitsch und Oberau kamen sie mit Pferdekutschen, die beim Droschkenkutscher Schulz auf der Schulpromenade eingestellt wurden. Zu diesen Fahrschülern gehörte auch in den Sommermonaten Schägner Kurtel, wenn er in Mlitsch bei seiner Tante wohnte. Im Winter war er bei Muttel Zeutschner in Pension. Er ist ja allen Lübenern von seinen Vorträgen in schlesischer Mundart bekannt. Wer lachte wohl bei ihm nicht, wenn er todernst die ulkigsten Gedichte vortrug oder Geschichten erzählte? Aus den umliegenden Dörfern kamen mehrere mit Fahrrädern: Im Laufe der Zeit waren wir eine stattliche Anzahl, auch Liegnitzer waren darunter.

Eine von uns Fahrschülern besonders zu respektierende Persönlichkeit war der Pedell Siebenhaar. Wegen uns mußte er schon gegen 6 Uhr morgens die Schulhoftür und eine Hintertür der Schule aufschließen. Hatte wir ihn zu sehr geärgert, z. B. Kleiderhaken auf den Fluren beim Spielen abgebrochen, seine Blumen beschädigt oder andere dumme Streiche begangen, schloß er die Türen eben nicht rechtzeitig auf, und wir mußten im Freien warten. Bei Regen und Kälte war das sehr unangenehm. In einem kalten Winter hatten wir in dem Heizungskeller zuviel Unfug getrieben. Früh hielten wir uns dort gern auf, weil die Klassenräume so zeitig noch nicht durchwärmt waren. Zur Strafe öffnete er einige Tage lang erst sehr spät, und wir froren jedesmal gewaltig. Unser Murren erreichte ihn nicht: Wir griffen zur Selbsthilfe und entriegelten vor der Heimfahrt unauffällig die Kellerfenster, um am nächsten Morgen durch sie einsteigen zu können. Er durchschaute bald den Trick und sorgte für geschlossene Fenster. Jetzt benutzte einer von uns ein Stück Draht als Dietrich und wir waren in der Schule. Nun riß Herrn Siebenhaar der Geduldsfaden. Er meldete den "Einbruch" dem Direx. Uns wurden die Leviten verlesen und der Hauptübeltäter erhielt einen Verweis. Die Tür war jedoch von da ab wieder rechtzeitig offen.

Das Hauptportal der Schule schloß er erst so fünfzehn bis zwanzig Minuten vor Schulbeginn auf. Wer zu zeitig - ausgenommen die Fahrschüler- da war, mußte warten. Pünktlich schloß er die Tür wieder ab. Wer zu spät kam war dann gezwungen, um die Schule herum durch den Schulhof und Keller in seine Klasse zu eilen. Stand ein Nachzügler in seiner Gunst, ließ er ihn noch unter verärgertem Brummen durchs Hauptportal hinein.

An Herrn Siebenhaar habe ich aber heute viele schöne Erinnerungen. Ich verbrachte oft in seiner Wohnstube nach Schulende die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Glücklich war ich, wenn er mir seine Erlebnisse als Soldat der deutschen Schutztruppe in unserer ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika erzählte. Als er den Verkauf von sterilisierter Trinkmilch unter sich hatte, kaufte ich sie mir auch bei ihm, seiner lieben Frau oder seinen netten Töchtern.

In der Wartezeit vor Schulbeginn und nach Schulschluß saßen wir nicht gern über unseren Schularbeiten, sondern beschäftigten ins lieber mit anderen Dingen. Im Sommer verbrachten wir die freie Zeit bis zur Abfahrt gern in der Badeanstalt, wo Studienrat Vetter und Lehrer Zingel Stammgäste waren. Wir tobten auch gern durch die Schulräume, spielten Karten, bastelten, lasen oder beschäftigten uns mit anderen interessanten Dingen. Kam ein Lehrer, um Geräte für chemische oder physikalische Versuche aufzubauen, halfen wir mit Feuereifer.

Heinz Gaede (aus Liegnitz?) schnitzte gut und gern. Eines Morgens hatte er bei dieser Beschäftigung viele Späne gemacht. Um sie auf einer Stelle zusammenzubekommen, nahm er den Hut, den Günther Feige im Flur hatte hängen lassen, und fächelte mit ihm so über die Späne, daß der Luftzug sie an der gewünschten Stelle zusammenwehte. Unglücklicherweise spielten mit diesem Hut einige andere Schüler während der Pause Fußball auf dem Flurfußboden, so daß der Hut schmutzig wurde. Diese Spieler konnten nicht festgestellt werden. Bekannt aber war, daß Heinz den Hut zur Säuberung der Klasse verwendet hatte. Wir mußten zum Chef zum Verhör. Er, der für die Fahrschüler ein warmes Herz hatte, war über die Beschädigung fremden Eigentum jedoch so empört, daß er unsere Darstellung als eine Schutzbehauptung ansah. Er blieb bei seiner Ansicht, daß Heinz mit dem Hut nicht gefächelt, sondern gefegt hatte. Er verwarnte uns streng, sprach aber zu unserer Erleichterung für Heinz kein Schulverbot aus.

Als ich mit meiner Mutter wegen der Anmeldung das erste Mal in die Penne kam, gingen wir in das Direktorzimmer im 1. Stock, wo Direktor Tscharntke uns empfing. Ich merkte gleich, daß der Mann sich nicht auf der Nase herumtanzen läßt.

Seine Hauptunterrichtsfächer waren Mathematik und Chemie. Während seines strengen Unterrichts gab es aber auch etwas zu lachen. Wenn er im Chemieunterricht über das Glaubersalz sprach, quittierten wir seine Bemerkung "Glaubersalz ist ein Abführmittel für Schweine, aber nicht für sie, meine Herrn" stets mit einem brüllenden Gelächter. Als er einmal beim Betreten des Chemiesaales sich äußerte: "Ich sehe einige, die nicht da sind," lachten wir lauthals. Er war ganz verdutzt, lachte dann aber auch. Durch eine Kriegsverletzung war seine rechte Hand steif (er schrieb mit der linken und sogar leserlich!). Wenn er seinen Hut vom Kopfe nahm, steckte er ihn oft beim Betreten der Klasse vor dem Aufhängen unter die rechte Achsel und preßte ihn an den Körper. Eines Tages geschah das wieder. Er glaubte dann wohl, er hätte ihn schon auf den Kleiderständer gehängt oder irgendwo hingelegt, denn plötzlich begann er ihn zu suchen. Wir Bösewichter schwiegen grinsend. Als er ihn endlich unterm Arm entdeckte, ging ein Gelächter an, in das er einstimmte.

Als Chef der Schule bestand sein Ehrgeiz darin, Abiturienten mit einem umfassenden Wissen in allen Fächern aus der Schule zu entlassen. Er warnte uns deshalb ständig vor der Reifeprüfung mit den Worten: "Tippen Sie nicht, meine Herren!" "Tippen" bedeutete im Schülerjargon, daß vor einer Klassenarbeit oder Prüfung genau überlegt wurde, welches Thema könnte an der Reihe sein. Auf dieses Thema beschränkte sich dann meistens unser Lerneifer, d. h. wir tippten... Wir hatten nämlich die Erfahrung gemacht, daß die Lehrer in ihrem eignen Interesse keine schlecht benoteten Schüler wollten. Wenn in einem Fach der größte Teil der Klasse schlecht war, taugte der Lehrer doch nichts. Wollten wir einen Lehrer fertigmachen, lernten wir deshalb in seinen Unterrichtsfächern nichts. Die Pauker nahmen daher oft vor einer Prüfung oder Klassenarbeit ein bestimmtes Gebiet mit besonderer Sorgfalt durch. Hatten wir dann trotzdem falsch getippt, war unsere Bedrängnis groß. Davor wollte der Direx uns beim Abitur bewahren. Seine Appelle blieben jedoch wirkungslos, weil selten eine Tippniete gezogen wurde.

Als ich ihm einmal bei einem Schwefelsäureversuch half, sprang das Glas und die Säure spritzte in der Gegend herum. Er erschrak, glaubte auch, sein Arbeitskittel sei bespritzt, gab mir einen leichten Schlag und rief ärgerlich:"Sie Schwein!" Anschließend war zwei Stunden Zeichenunterricht. Danach ließ er mich rufen, gab mir die Hand und sagte:"Leo, Sie konnten nichts dafür. Entschuldigen Sie bitte mein Verhalten!"

Mir selbst war ganz mulmig, als ich gerufen wurde, weil ich aus einem anderen Grunde ein sehr schlechtes Gewissen hatte. Ich war glücklich, als alles gut für mich verlief. Im Zeichenunterricht hatte Papen (= der Zeichenlehrer Halfpaap) nämlich drei Kameraden und mir gestattet, in die Stadt zu gehen und uns irgendein Motiv zu suchen, weil wir mit unseren Linolschnitten fertig waren. Wir hatten uns das Portal der Schloßkapelle ausgesucht, um nicht lange zeichnen zu müssen. Bald waren wir fertig und verschwanden im Hinterstübchen des Hotels zum "Grünen Baum", um ein Bier zu trinken. Da es für Schüler streng verboten war, ohne Begleitung von näheren Angehörigen ein Lokal aufzusuchen, noch dazu während des Unterrichts, paßte "Kurtel", der Ober, mächtig auf, um uns rechtzeitig zu warnen, falls gerade ein Pauker auftauchen sollte. Erst nach dem zweiten Bier trollten wir uns wieder in die Schule. Als der Chef meinen Typ verlangte, glaubte ich also, ich sei von jemandem verpetzt worden.

Die Sitten und Gebräuche der Schule waren streng. Auf ihre Einhaltung wurde vom Chef und dem Lehrerkollegium genau geachtet. Lokalbesuche waren untersagt. Als Untersekundaner durften wir am Sonntag und auch an einem bestimmten Wochentag die Konditorei Neumann, später auch Hilbig aufsuchen. Ab 21 Uhr hatten alle Schüler daheim zu sein. "Ausnahmsweise" wurde gegen den abendlichen Bummel auf dem Ring zwischen 18 und 19 Uhr nichts eingewendet, obwohl die holde Weiblichkeit dort stark vertreten war.

Als jugendliche Wasserratten baten, die Badeanstalt wenigstens an einigen Tagen oder Stunden für einen Familienbadebetrieb freizugeben, wurde dem Ansinnen wegen moralischer Bedenken nicht stattgegeben: Bademeister Pohl wird die Entscheidung begrüßt haben, weil ihm dadurch gewiß Ärger erspart blieb. Die Richtigkeit dieser Entscheidung möchte ich jedoch anzweifeln. Männliche und weibliche Badelustige radelten halt an schönen Sommertagen zu den Groß-Reichener Teichen, wo sie unter sich waren. In Schusters Kintopp, das erste deutsche Kino, durften wir auch nur gehen, wenn der betreffende Film von der Schulleitung freigegeben war.

Der erste Lehrer, mit dem ich von Anfang an zu tun hatte, war Gustav Zingel, von uns liebevoll, manchmal auch respektlos "Gustav" genannt. Bei ihm machte ich die Aufnahmeprüfung und hatte ihn in den unteren Klassen als Deutsch-, Rechen-, Naturkunde- und Schönschreiblehrer. Als Musiklehrer war er auch in den oberen Klassen tätig. Während der Aufnahmeprüfung war er durch sein väterliches Verhalten eine große Beruhigung für mich. Man muß wissen, daß ich in der für mich völlig fremden Umgebung zwischen unbekannten Mitprüflingen einen großen Bammel hatte.

Nach bestandener Prüfung war nicht die Beschaffung von Lehrmaterial beim Buchhändler Scholz auf dem Ring die größte Sorge, sondern die Anfertigung der schmucken blauen Schülermütze mit goldenen Streifen durch den Kürschnermeister Stenzel am Ring. Damals trugen die Schüler aller Klassen die blauen Schirmmützen, allerdings mit unterschiedlichen Bändern. Später erhielten die Primaner das Recht, weiße Mützen zu tragen.

Zurück zu Gustav Zingel. Bei ihm hatten wir gern Unterricht, Seine Güte nutzten wir jedoch manchmal schamlos aus. Im Botanikunterricht brachten wir ihm z. B. eine von uns verstümmelte Pflanze und fragten ihn scheinheilig, in welche Pflanzengattung sie einzureihen sei, weil sie nur soundsoviel Blüten- und Kelchblätter besäße. Wenn er auch merkte, daß wir ihn veräppeln wollten, strafte er uns höchstens mit einem leichten Klaps oder "fauzte" uns, d. h. mit der linken Hand kniff er die Polster der rechten Gesichtsbacke und gab auf die linke einen gelinden Schlag. Hatten wir ihn allerdings zu sehr geärgert, züchtigte er uns mit der "Mangelkeule". Das war aber keine dicke Holzrolle, wie sie zum Wäschemangeln benutzt wird, sondern der Haselnußzeigestock. Den ließ er dann wild auf dem Hinterteil des Übeltäters tanzen, den er mit einer Hand festhielt. Zu unser aller Gaudium schrie der Gemaßregelte jämmerlich und sauste an Gustavs Hand im Kreis herum, damit die Wucht der Schläge gering wurde. Meistens setzte er sich nach der Züchtigung grinsend auf seinen Platz.

In Gustavs Musikunterricht liebten wir besonders die letzten Bankreihen, auf die die Nichtsänger und die Stimmbrucher verwiesen wurden. Hier konnte man sich ziemlich ungestört auf die nächste Stunde vorbereiten oder 66 spielen. Manch einer gab an, stimmlich unpäßlich zu sein, um hier die Stunde absitzen zu können. Ich hatte dort als unmusikalischer Nichtsänger einen Dauerplatz. Allerdings mußte ich mich ab und zu einer stimmlichen Zwischenprüfung unterziehen. Gustav beendete sie mit der ärgerlichen Feststellung: "Setz dich, Brummbär ."

Im Schönschreibunterricht mußten wir nach dem Kommando "Auf und ab" oder "Eins und zwei" die Buchstaben malen. Ich gehörte zu seinen guten Schönschreibern, bereitete ihm aber trotzdem großen Kummer, weil ich sonst sehr unleserlich schrieb. In den Zensuren stand stets: "Schönschreiben 2", "Handschrift 4" (mangelhaft) .

Mit leuchtenden Augen hörten wir ihm zu, wenn er uns von dem Freiheitskampf der Tiroler im Jahre 1809 gegen Napoleon unter der Führung von Andreas Hofer und dem Speckbacher erzählte. Dicht umlagerten wir ihn, wenn er uns anschaulich die Bilder vom Freiheitskampf erklärte. Besonders beeindruckend fanden wir das Bild von der Schlacht am Berg Isel, auf dem nach seinen Worten der Speckbacher um die Ecke "linste". In der deutschen Grammatik war er unerbittlich bemüht, uns die schwierigen Regeln der Sprachlehre beizubringen. Was er uns lehrte, saß.

Es war üblich daß ein Klassenlehrer eine Klasse drei Jahre führte, Studienrat Vetter - Oberstudiendirektor, nachdem Studiendirektor Tscharntke nach Breslau ging - hatte ich aber sechs oder sogar mehr Jahre als Klassenlehrer, was ich persönlich begrüßte, weil er mir trotz seines nüchternen Unterrichts sehr gefiel. Er war ein Lehrer, der uns auf Grund seines Wissens und Verhaltens nicht anregte, ihm einen Spitznamen zu geben. Wenn wir es gut mit ihm meinten, sprachen wir vom Erwin. Stets war er ruhig und beherrscht, achtete streng darauf, daß nicht gemogelt wurde. Er war zu meiner Zeit der einzige Lehrer, bei dem wir während einer Klassenarbeit nicht unbemerkt abschreiben oder uns etwas zuflüstern konnten. Er hatte nämlich ein sehr gutes Gehör und stellte sich seitlich so geschickt hin, daß er mit seinen bebrillten Augen alles übersehen konnte. Was uns an ihm besonders imponierte, war sein Gerechtigkeitssinn, sein Eintreten für die Schüler seiner Klasse und seine Kameradschaftlichkeit, die wir während der ein- oder mehrtägigen Klassenausflüge kennenlernten. Sein Unterricht war klar und verständlich. Von uns verlangte er nicht nur ein ständiges Mitarbeiten, sondern auch ein kritisches Denken. In den Deutsch- und Geschichtsstunden sprachen wir über Tagesereignisse und debattierten mit ihm heftig über Dawes- und Youngplan oder die Herabsetzung des Wahlalters auf achtzehn Jahre. Auch wenn ein großer Teil von uns seine Meinung nicht teilte und wir ihn scharf angriffen, hatten wir nie darunter zu leiden. Vor dem Abitur beruhigte er uns mit den Worten:"Wer stets gelernt hat, braucht keine Angst zu haben. Es wird nur das verlangt, was durchgenommen wurde."

Als in der Unterprima zwei Klassenkameraden einem Schüler einer anderen Klasse, der auf Weisung von Studienrat Fiedler eine Landkarte aus unserem Raum holen sollte, von hinten die Jacke über den Kopf stülpten, ihn dann verprügelten und verschwanden, führte er eine strenge Untersuchung durch. Als er nichts aus uns herausbekam, appellierte er an das Ehrgefühl der Übeltäter und forderte sie auf, sich zu melden. Daraufhin standen alle 24 Schüler einschließlich der Damen auf. Dieser Klassengeist gefiel ihm so, daß er sich in der Lehrerkonferenz so für uns einsetzte, daß die Sache im Sande verlief.

Studienrat Dr. Kapuste gab französischen Unterricht. Er war ein hochgewachsener sportlicher Typ. Während des Unterrichts sprach er mit uns nur Französisch. Seine Anforderungen waren sehr hoch, unsere Noten bei ihm schwach. Privat hatte er große Sorgen, weil sein kleiner Sohn schwer herzkrank war.

Studienassessor Hielscher (?) gab auch Französisch. Vor ihm hatten wir keinen Respekt. In seiner Unterrichtsstunde herrschte oft Unruhe, auch Stinkbomben wurden geworfen! Sein Spitzname war "Käsekill". In seiner sonderbaren französischen Sprechweise mit schlesischen Dialekt sprach er "qu'est-ce qu'il" wie "käsekill" aus. Die französischen Arbeiten fielen bei ihm überdurchschnittlich gut aus, bis der Chef davon Wind bekam. Käsekill nahm die Themen, die er für die nächste Klassenarbeit ausersehen hatte, vorher gründlich durch. Uns fiel das auf, wir bereiteten uns daheim gut vor - und hatten richtig getippt.

Einige Monate kam Studienrat Selke aus Liegnitz, um Lateinunterricht zu geben. Er war ein liebenswürdiger Lehrer und hatte eine enormes Wissen, jedoch bei uns überhaupt keinen Respekt, wohl wegen seiner Unterrichtsmethode. Zum Beispiel fragte er: "Wer hat das Kapitol gerettet, Herr von Mutzenbecher?" Dessen Antwort, ohne aufzustehen: "Die Gänse!" Darauf Studienrat Selke: "Gut!" Er zückte sein Notizbuch und trug eine 2 ein! Vicki von Mutzenbecher war sicher, nicht so bald wieder von ihm gefragt zu werden und trotzdem in Latein eine 2 zu erhalten.

Bei ihm und dem Studienassessor Hielscher meldeten wir uns auf sonderbare Art. Wir hoben nicht den Zeigefinger, sondern schnalzten ständig mit Zeige- und Mittelfinger so kräftig, daß es knallte. Dabei erhoben wir uns halb vom Sitz, legten uns etwas über die Bank, drückten die Unterlippe nach vorn und gaben röchelnde Laute von uns. Den Lehrer machte es nervös, uns aber Spaß.

Als Käsekill einmal mit einer heftigen Handbewegung andeuten wollte, wir sollten mit dieser Dummheit aufhören, schlug er sich den Kneifer von der Nase. Das tat uns leid. Wir unterließen seitdem bei ihm die Ungezogenheit.

In den ersten Jahren meiner Lübener Pennälerzeit lehrten noch die beiden Pauker Krenke und Mosel. Studienrat Krenke, der häufig "Ische" sagte wie andere "äh" sagen, nannten wir Ische. Ich hatte bei ihm keinen Unterricht. Er ging wohl bald in den Ruhestand. Soviel ich mich erinnere, erteilte er französischen und Naturkunde-Unterricht. Neben dem Schulhof hatte er einen botanischen Lehrgarten. Einige Beete standen den Schülern zur Bepflanzung und Pflege zur Verfügung. Er soll Schrankenwarter gewesen sein und nach Selbststudium die Reifeprüfung gemacht haben, um studieren zu können. Wenn dem so war, eine sehr beachtliche Leistung!

Studienrat Mosel gab Latein, Religion und starb Anfang der zwanziger Jahre. Er war ein langes Leiden (ca. 198 cm) mit bebrilltem und kurzgeschorenem Haupt und komischen eckigen Bewegungen. Wegen seiner Strenge lernte man viel bei ihm. Gegen Vorsagen oder Abschreiben hatte er eine gewaltige Abneigung. Wen er erwischte, forderte er mit einer eckigen und sehr steif wirkenden Bewegung seines langen Armes und nach unten gerichtetem Zeigefinger auf, vor ihn hinzutreten, und sagte dazu: "Komm mal hierher!" Stand nun das kleine Häuflein Unglück vor dem Riesen, legte er wieder mit sehr eckiger Bewegung den Zeigefinger an seine Nasenspitze und forderte: "Sieh mich mal an. Sag die Wahrheit, Dir passiert nichts. Hast Du abgeschrieben (oder vorgesagt)?" Wenn nach mehrmaliger Aufforderung der Sünder das Vergehen stotternd zugab, verschwand der Zeigefinger von der Nasenspitze und landete knallend zusammen mit dem Mittelfinger auf der Backe des Übeltäters. Zu diesem sagte er dann: "Nun geh auf deinen Platz, jetzt trage ich dich in das Klassenbuch ein." Nach einer steifen Kehrtwendung von 180 Grad schritt er gemessen und würdig zum Katheder und trug den ein, der an sein Wort, daß ihm nichts passieren werde, geglaubt hatte. Die Folge dieser falschen Erziehungsweise war, daß wir ihn künftig so lange belogen, bis er den Gegenbeweis führen konnte. Lustig sah es auch aus, wenn sich "Mosella" (die lateinische Bezeichnung für den Fluß Mosel) den Kopf kratzte. Er bewegte dann seinen Arm erst steif in die Höhe, winkelte den Unterarm ein und drehte die Hand eckig nach unten über den Kopf, kratzte ihn mit den Fingernägeln und machte anschließend die gleichen Bewegungen rückwärts.

Nun bin ich am Ende meiner Erzählung angekommen. Beim Aufzeichnen meiner Erlebnisse kamen mir Erinnerungen an meine liebe Mutter, an Raudten, an Lüben, die Penne, die Pauker und die Mitschüler, mit denen ich jahrelang Freud und Leid teilte, wieder recht klar vor Augen. Ich würde mich freuen wenn es dem einen oder anderen Leser dieser Zeilen ebenso ginge.

Es fällt mir leicht, zu gestehen, daß ich trotz der Erschwernisse, die ich als Fahrschüler gegenüber den anderen Schulkameraden hatte, gern in die Schule fuhr und mich mit meinen Lehrern, denen ich sehr viel verdanke, noch heute verbunden fühle. Leider hat sie der Tod schon hinweggerafft. Mögen meine Ausführungen über sie als dankbarer Nachruf gewertet werden.


Episoden

Chemie
Zu den grundlegenden Versuchen des Chemieunterrichts gehört die Herstellung der Verbindung "Schwefeleisen". Direktor Tscharntke unterrichtete dieses Fach selbst und offensichtlich auch gern. Er schüttete die beiden Ausgangsstoffe Schwefel und Eisen vorn auf den Experimentiertisch. Mit wohlbetonten Worten, wie es seine Art war, sprach er dazu: "Ich habe hier zwei Haufen gemacht." Darob entstand in den oberen Rängen des Hörsaals Unruhe. Seine Rechte in charakteristischer Weise drohend erhebend, rief er nun: "Und wenn Sie dahinten nicht ruhig sind, setze ich einen vor die Tür!" Als das wiehernde Lachen allmählich verebbte, kam auch der Herr Direktor schmunzelnd aus dem Vorbereitungsraum zurück, in den er sich zunächst einmal zurückgezogen hatte.

Kollegen
Wenn ein Zirkus auf dem Turnplatz sein Zelt aufbaute, war es üblich, daß die Klassen unter Aufsicht ihres Klassenleiters eine der verbilligten Nachmittagsvorstellungen besuchten. War es Zufall oder Absicht? Jedenfalls saßen die Klassen von "Zassel" und "Gustav" nahe beieinander. Die Vorstellung sollte eben beginnen, da trat ein weiterer Lehrer, dessen Namen ich hier höflich verschweigen möchte, durch den Vorhang in den Innenraum des Zirkus.
"Guck mal, Gustav, der erste Clown", rief Zassel seinem einige Bänke weiter oben sitzenden Freund zu und blitzte mit seinen munteren Augen listig über seine Brillengläser.

Onkels
Gustav unterrichtet in der Quinta Deutsch, er behandelt Freiligraths Gedicht Die Trompete von Vionville. Dazu versammelt er seine Schüler ums Katheder. Vor dem Bauch hält er ein dickes Buch mit Bildern, erzählen konnte er wie kaum ein anderer. Es war ein Genuß, ihm zuzuhören. Vor vielen Jahren, er war noch junger Lehrer, habe er seinen Schülern auch einmal dieses Bild des Trompeters von Vionville gezeigt. Da habe plötzlich einer der Jungen auf einen der abgebildeten Reiter gezeigt und gerufen: "Herr Lehrer, das ist mein Onkel!". Er sei der Behauptung nachgegangen und wirklich, ein Onkel des Jungen hatte an dieser Schlacht teilgenommen und sah dem Mann auf dem Bild sehr ähnlich.

In der nächsten Stunde gibt Gustav Geschichte. Wieder hält er das schon zerfledderte Buch vor dem Bauch und läßt uns anhand eines Bildes erleben, was damals bei den germanischen Recken geschah. Und als er auf einen der gefallenen Germanen zeigte, den Walküren gen Walhall trugen, rief Egon Becker in die andächtige Stille hinein: "Herr Lehrer, das ist mein Onkel!". Gustavs Reaktion war herzerweichend. Er schwankte zwischen Empörung, Bedauern mit dem Zwischenrufer und tiefer Resignation.

Vorsicht Gas
Das passierte bei Gustav im Musikunterricht: An der Musik, wie er sie uns Obertertianern darbot, fanden nur wenige gefallen. Also wurde Niespulver gestreut. Als das allgemeine Niesen begann und auch Gustav nicht verschont blieb, rief einer: "Das ist Gas!". Gustav nieste noch einmal, überlegte kurz und holte seinen Freund Dr. Krusche, den Chemielehrer. "Gustav", sagte der und blickte uns durch seine Nickelbrille an: "Das ist die Obertertia, das ist Niespulver", knallte die Tür zu und verschwand. An Unterricht war nicht mehr zu denken. Gustav saß gebrochen am Klavier, stieß unverständliche Drohungen aus, würdigte uns keines Blickes mehr und verließ schließlich, schwer enttäuscht, das Musikzimmer.

Jupiter
Lateinstunde bei "Spießer". Karl Buck bekommt den Auftrag, "Jupiter, optimus, maximus" zu übersetzen. In Latein ist er nicht gerade ein As. Er druckst herum und schielt hilfesuchend in die Runde. Spießer (Lehrer Fiedler) ist unbarmherzig. Karls Ohren wackeln, so angestrengt lauscht er in die Klasse, ob er nicht einen freundschaftlichen Zuruf erhaschen kann. Obwohl er an der Fensterseite sitzt und ich in der letzten Bank an der Wand, hört er, wie ich flüstere "Jupiter ist der größte Optimist." Erlöst stößt er den Satz heraus. Für das brüllende Gelächter, in das auch Spießer einstimmt, kassiere ich in der Pause von Karl eine kleine "Lage", die aber unserer Freundschaft keinen Abbruch tat.

Lotteriespiel
Von den Fenstern zur Schulpromenade hin konnte man wunderschön beobachten, wie die "Höheren Töchter" des Morgens zu ihrer benachbarten Schule strebten. Manches Jungenherz schlug heftiger, wenn seine Angebetete unter den Linden dahinschritt. Einer der Heißentbrannten schrieb einmal die Namen der holden Damen auf Zettel, rollte diese zusammen und ließ seine Nachbarn ziehen. Trafen sie den richtigen Namen, gab es lebhaftes Kopfnicken und strahlende Augen. Das Unglück wollte es, daß Gittegitt (Lehrer Munderloh) einen der Zettel erwischte. Er steckte ihn ein und schwieg zunächst vielsagend. Am nächsten Morgen aber, als er dem Delinquenten ein mit "mangelhaft" bewertetes Diktat zurückgab, tat er das mit den diabolischen Worten: "Die Liebe und der Suff, die reib'n den Menschen uff".

Die Katze
Wir haben Biologie-Unterricht bei Gustav. Er doziert über die Katze, beschreibt ihren Körperbau, ihre Eigenschaften und so weiter. - Da kommt einige Tage später der Oberschulrat aus Breslau zur fälligen Inspektion und ausgerechnet zu uns in den Unterricht über die Katze. Wir antworten und erzählen tadellos: über die Bedeutung und Funktion der Krallen, die Jagdgewohnheiten, ihr Sehvermögen bei Nacht. Es läuft wie am Schnürchen. Da will der Oberschulrat vom Biologischen zum Aberglauben überleiten und fragt, was man denn so sage, wenn einem eine Katze über den Weg laufe. Tiefes Schweigen. Da greift Gustav ein und stellt die Frage etwas lebenswirklicher, dazu ruft er Linke aus Paschkerwitz bei Breslau auf: "Nu, Linke, was sagt denn Deine Mutter, wenn sie früh aus der Haustür tritt und die Katze läuft ihr über den Weg?" Linke windet sich: "De Mutta soat.. die soat...", "ja, was sagt denn die Mutter?", hakt Gustav nach. - Pause - Dann faßt sich Linke ein Herz: "Se soat, Kotze, du Oas!".

Abschnitt 1: Vorwort Abschnitt 2: Die Chronik Abschnitt 3: Aus dem Schulalltag Abschnitt 4: Die Lehrkräfte Abschnitt 5: Die Schüler Abschnitt 6: Schülererinnerungen von Eva Munderloh Abschnitt 7: Fahrschülererinnerungen von Gustav Fechner, Raudten Abschnitt 8: Erinnerungen von Hans-Joachim Rudolph, Ossig Abschnitt 9: Erinnerungen von Erich Archner und Rudolf Behnisch Abschnitt 10: Erinnerungen des Fahrschülers Leo Beyl, Raudten
Abschnitt 1: Vorwort Abschnitt 2: Die Chronik Abschnitt 3: Aus dem Schulalltag Abschnitt 4: Die Lehrkräfte Abschnitt 5: Die Schüler Abschnitt 6: Schülererinnerungen von Eva Munderloh Abschnitt 7: Fahrschülererinnerungen von Gustav Fechner, Raudten Abschnitt 8: Erinnerungen von Hans-Joachim Rudolph, Ossig Abschnitt 9: Erinnerungen von Erich Archner und Rudolf Behnisch